Nach dem fatalem Justizirrtum spricht das Landgericht Lüneburg Verurteilte im Jennifer-Prozess vom Vorwurf der Vergewaltigung frei.

Lüneburg. Die erste große Jugendkammer des Landgerichts Lüneburg hat gestern zwei Männer von ihrer Verurteilung wegen Vergewaltigung freigesprochen. In dem Wiederaufnahmeverfahren hoben die Lüneburger Richter Entscheidungen des Landgerichts Hannover auf und widersprachen einem Urteil des Bundesgerichtshofs. Für ihre zu Unrecht abgesessenen Haftzeiten werden die Männer entschädigt.

"Nach heutigen Erkenntnissen hätte nicht einmal Anklage erhoben werden dürfen", sagte der Vorsitzende Richter Axel Knaack in der Urteilsbegründung. Das Verfahren ende mit einer "verheerenden Bilanz", am Ende stünden "nur Verlierer".

Im Mai 2001 hatte Jennifer W. aus Garbsen, damals 15 Jahre alt, Strafanzeige gestellt gegen zwei Männer: ihren eigenen Vater Karl-Heinz W., heute 61, sowie einen Freund der Familie, Horst W., heute 45 Jahre alt. Der Vorwurf: Zwischen Januar und Mai 2001 habe ihr Vater sie mehrfach vergewaltigt, Horst W. habe sie mehrfach missbraucht und gefoltert. 2002 erhob die Staatsanwaltschaft Hannover Anklage, von Juni 2003 bis Mai 2004 verhandelte das Landgericht Hannover an 42 Tagen den Fall.

Das Ergebnis: zwölf Jahre und acht Monate Haft für Horst W. sowie fünf Jahre und acht Monate Haft für Karl-Heinz W. Beide gingen in Revision. Bei Horst W. verwarf sie der Bundesgerichtshof, bei Karl-Heinz W. verringerte er die Strafe leicht. Beide Männer mussten ins Gefängnis.

Doch Jennifer hatte ihrem Vater noch mehr vorgeworfen: Er habe sie zu Lkw-Fahrern gebracht, die sie ebenfalls vergewaltigten. Die Anschuldigungen kamen erst im Januar 2008 vor Gericht, das Verfahren war jedoch schnell beendet. Und brachte gleichzeitig eine ganz andere Lawine ins Rollen.

Denn bei dem Verfahren wurde eine Aussage öffentlich, die Jennifer im September 2004 gegenüber der Staatsanwaltschaft Hannover gemacht hatte: Sie sei als kleines Mädchen Opfer eines Kinderbordell- und Kinderfolterrings in Hannover geworden, gab Adressen an sowie Namen von Beteiligten.

Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Polizei blieben jedoch ergebnislos. Das erweckte Zweifel an der Glaubwürdigkeit des vermeintlichen Opfers.

Im April 2009 schließlich stellte der Rechtsanwalt Johann Schwenn beim Landgericht Lüneburg den Antrag auf ein Wiederaufnahmeverfahren -ein laut Richter Knaack "absoluter Exot" in der deutschen Verfahrenslandschaft. Denn die Hürden seien besonders hoch: Es müssen neue Tatsachen oder Beweise vorliegen.

Nach Aktenstudium kamen den Lüneburger Richtern laut Knaack "ganz erhebliche Zweifel, ob den Angeklagten überhaupt ein Vorwurf zu machen ist". Ein kurzfristig eingeholtes vorläufiges Gutachten bestätigte der Kammer die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin. Die Richter holten Horst W. Mitte Juni 2009 aus der Haft, Karl-Heinz W. war bereits frei, hatte seine Strafe da bereits verbüßt.

Weil das Glaubwürdigkeitsgutachten allerdings geraume Zeit in Anspruch nahm, kam es zur Hauptverhandlung erst im August dieses Jahres. Ihr Ergebnis laut Richter Knaack: Die Aussage Jennifers hätte "bereits in der Anfangsphase nicht für eine Verurteilung ausreichen dürfen".

Verlierer seien nicht nur die Zeugin selbst und das "Netzwerk wohlmeinender, mitfühlender Menschen um sie herum" inklusive ihrer Anwältin, sondern insbesondere die Angeklagten: Sie seien langjährig durch die "Hölle eines Ermittlungsverfahrens" gegangen, hätten Prozess und Haft mit "verheerenden Auswirkungen auf das private und berufliche Leben" ausgestanden sowie eine Stigmatisierung in der Öffentlichkeit erlebt.

Einen weiteren Einblick in die Welt der Jennifer hatten die Beteiligten noch kurz vor Verkündung des Urteils erhalten: Ein am Montag von ihrer Anwältin im Plädoyer vorgelegtes Attest über eine angebliche Krebserkrankung erwies sich nach Prüfung durch die Kammer als gefälscht.

Rechtsanwältin Martina Zerling-Andersen wiederholte dennoch ihren Antrag auf Verurteilung der Männer, sagte nach Ende des Verfahrens: "Ich habe gemacht, was notwendig ist: Ich habe meiner Mandantin geglaubt."

Horst W. sagte im Anschluss an der Seite seiner Frau: "Das hat fast zehn Jahre unseres Lebens zerstört." Ob die Entschädigung, von Rechtsanwalt Schwenn für beide Freigesprochene auf einen siebenstelligen Betrag taxiert, fünfeinhalb Jahre Gefängnis wiedergutmachen können, verneinte er mit der rhetorischen Gegenfrage: "Kann Geld das entschädigen?"

Jennifer (24) selbst wünschte der Freigesprochene, "dass sie Menschen bekommt, die auf sie aufpassen". Er habe sich stark mit der bei ihr angenommenen Borderline-Erkrankung befasst. "Da können ganz schlimme Dinge mit Jennifer passieren." Wie es für ihn weitergehe?: "Ich weiß es nicht."

Jennifers Vater hatte in seinen Schlussworten zu dem gefälschten Attest gesagt: "Das war schon immer ihre Art, wenn sie etwas erreichen wollte: zu lügen, zu lügen, zu lügen." Ansonsten wolle er jetzt nur noch eines, "zur Ruhe kommen, nichts weiter". Seine Tochter wird sich im Übrigen selbst vor Gericht wiederfinden - unter anderem wegen Falschaussage.