Gravierender Justizirrtum. Landgericht wird sechs Jahre altes Urteil im Fall Jennifer aufheben. Vorwurf der Vergewaltigung ist nicht haltbar

Lüneburg. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg hat gestern den Freispruch zweier im Mai 2004 wegen Vergewaltigung verurteilter Männer beantragt. Mit diesem spektakulären Plädoyer begann gestern im Landgericht Lüneburg das Ende des fünfwöchigen Wiederaufnahmeprozesses um einen möglichen Justizirrtum des Landgerichts Hannover. Er geht am Mittwoch aller Voraussicht nach mit einem Freispruch der Angeklagten aus.

Karl-Heinz W. (61) hat seine Strafe bereits abgebüßt, saß drei Jahre und acht Monate im Gefängnis und lebte zwei Jahre unter Aufsicht, seit Ende 2009 ist er ein freier Mann. Ralf W. (45) war seit fünf Jahren und fünf Monaten hinter Gitter, als Lüneburger Richter ihn im Juni 2009 nach starken Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Hauptbelastungszeugin Jennifer W. (24) aus der Haft holten.

Das Mädchen war zum Zeitpunkt der von ihr angegebenen Taten 15 Jahre alt, ihr Vater Karl-Heinz W. und der Freund der Familie Ralf W. sollen sie im Jahr 2001 jeweils fünf Mal vergewaltigt haben. Eine Aussage aus 2004 über einen angeblichen Kinderpornoring hatte die Staatsanwaltschaft Hannover jedoch jahrelang nicht ans Landgericht weitergeleitet: Rechtsbeugung nannte das Ralf W.'s Anwalt Johann Schwenn.

Denn die Aussage ist nach seiner Überzeugung entlastend für die Verurteilten, weil die Angaben Jennifers nach Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Polizei damals haltlos blieben. Die spätere Aussage ließ daher Zweifel an den Vorwürfen der Vergewaltigungen aufkommen. So große Zweifel, dass selbst der Staatsanwalt nach neun Verhandlungstagen gestern für einen Freispruch der Männer plädierte: gemäß dem Grundsatz "in dubio pro reo", im Zweifel für den Angeklagten.

"Wie es tatsächlich gewesen ist, wissen nur Sie und Jennifer", sagte Staatsanwalt Padberg zu den Männern, das Gericht könne weder feststellen, dass Jennifers Vorwürfe tatsächlich stimmten noch, dass es nicht so gewesen sei. Wenn nicht, sei das "ein kaum zu entschuldigender Fall".

Die Verteidiger der Verurteilten wiesen in ihren Plädoyers auf den Widerspruch hin, dass das Jungfernhäutchen Jennifers nach zehn vermeintlichen Vergewaltigungen noch unverletzt gewesen sei. Schwenn kritisierte zudem den "evidenten Mangel an Sachkunde am Landgericht Hannover". Im Wiederaufnahmeverfahren nutze Jennifer W. "ihre Macht, um die Wahrheitsfindung zu behindern".

Schwenn sprach von einer Borderline-Störung der Zeugin, von einer "Lebenslüge der Opferrolle" und "Totalblockade". Sie sei zur Strafanzeige gedrängt worden, Schwenn beantragte daher Freispruch für Ralf W. und Entschädigung für die Haftzeit.

Denselben Antrag stellte der Anwalt von Karl-Heinz W.: Das sei eine "prozessuale Selbstverständlichkeit, keine besondere Leistung des Verteidigers".

Die Vertreterin Jennifer W.'s als Nebenklägerin sagte in ihrem Plädoyer: "Meine Mandantin kann nichts dafür." Es handele sich in dem Verfahren um eine "offensichtliche Verschiebung der Betrachtungsweise", das Thema Kinderpornoring habe mit dieser Anklage nichts zu tun. Ein Großteil der Taten sei per Handy-Kurznachrichten und E-Mails nachvollziehbar, "auch Monate später passte noch alles zusammen". Jennifer habe Angst gehabt, dass die Familie auseinander breche und ihr keiner glaube. Beides sei jetzt real.

Ihr Vater habe sehr wohl sexuelles Interesse an Jugendliche: Er sei als 35-Jähriger mit Jennifers späterer Mutter zusammengekommen, als jene 15 Jahre alt war - mit 17 bekam sie Jennifer. Beide leben jetzt getrennt.

Jennifer W. berief sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht und ihr Auskunftsverweigerungsrecht: Sie könnte sich selbst belasten, gegen sie laufen Ermittlungen wegen Falschaussage.