Armut spaltet die Gesellschaft: Sozialverband Deutschland: Die Umkehr ist notwendig und bezahlbar

Mit 560 000 Mitgliedern ist der Sozialverband SoVD nach dem VdK der zweitgrößte Sozialverband des Landes. "Mit 18 500 Mitgliedern in Hamburg wollen wir so weit wachsen, dass wir mehr Mitglieder haben als alle Parteien der Hansestadt zusammen", gibt der Landesvorsitzende Klaus Wicher ein ehrgeiziges aber keineswegs utopisches Ziel aus. Im Schulterschluss mit Gewerkschaftern präsentiert der SoVD ein Gegenkonzept zu wachsender Kinder- und Altersarmut, zu Armutslöhnen und Ausgrenzung immer größerer Bevölkerungsschichten. Und nennt Zahlen: Eine Trendwende weg von weiter sinkenden Renten und zurück zu einem auskömmlichen Rentenniveau ließe sich mit 25 bis 30 Milliarden Euro jährlich realisieren. Im Interview äußern sich Klaus Wicher und Bergedorfs DGB-Chef Ernst Heilmann.

Bergedorfer Zeitung: Herr Wicher, nur aus der Rentenkasse lässt sich ein solches Vorhaben nicht bestreiten. Was fordern Sie genau?

Klaus Wicher: Die Altersarmut hat sich seit 2000 etwa verdoppelt, beträgt heute rund 14 Prozent. Hält der augenblickliche Trend an, ist 2023 mehr als jeder fünfte Rentner in Deutschland betroffen. Drei bis vier Millionen Senioren hätten dann weniger als 60 Prozent vom Durchschnittseinkommen zum Leben.

bz: Im reichen Hamburg ist die Situation ähnlich?

Ernst Heilmann: Aufgrund der hohen Mieten und Lebenshaltungskosten ist sie sogar schlimmer als im Durchschnitt. Derzeit beschränken sich Bundesregierung und Senat auf Kosmetik, etwa die Mütterrente. Dass sie ausgeweitet wird, ist zwar richtig. Nicht aber, dass sie auf die Grundsicherung angerechnet wird. Auch nicht, dass sie als versicherungsfremde Leistungen aus Rentenbeiträgen statt aus Steuern finanziert wird.

Wicher: In Hamburg stellen mehr als doppelt so viele Menschen Antrag auf Grundsicherung als im Bundesdurchschnitt, die Hansestadt liegt damit einsam an der Spitze. Wir wollen eine Bürgerrente für alle. Es ist ungerecht und niemandem zu vermitteln, dass diejenigen, die den Staat finanzieren, nach 2030 nur noch 43 Prozent ihres letzten Netto-Gehalts als Rente erhalten sollen. Aktuell sind es schon unter 49 Prozent.

bz: Wie soll der Abwärtstrend bei den Renten ganz praktisch gestoppt werden?

Wicher: Mit verschiedenen Maßnahmen. So soll der sogenannte Riesterfaktor umgedreht werden. Nachdem die gesetzliche Rente über Jahre mit Verweis auf die Riesterförderung weniger gestiegen ist als die Reallöhne, soll der Faktor nun auf die Rentenerhöhung draufgeschlagen werden. So lange, bis das Rentenniveau wieder den Stand vor 2001 erreicht hat. Weiter müssen die Abzüge bei den Erwerbsminderungsrenten gestrichen werden. Derzeit sind diese so hoch, dass viele Betroffene unmittelbar in die Altersarmut geraten, sobald sie Altersrente erhalten. Ähnliches gilt für Langzeitarbeitslose, die mit 63 Jahren zwangsverrentet werden, um die Erwerbslosenstatistik zu schönen. Wer mit seinem Geld nicht auskommt und Grundsicherung beantragen muss, dem wird seine Rente komplett angerechnet. Als hätte dieser Mensch nie in seinem Leben gearbeitet, nicht viele Jahre oder Jahrzehnte Beiträge gezahlt.

bz: Wie könnte die Lösung aussehen?

Heilmann: Im bestehenden System wären Freibeträge möglich.

Wicher: Die ersten 100 Euro einer kleinen Rente von zum Beispiel 300 Euro könnten voll erhalten bleiben, die zweiten 100 Euro zur Hälfte auf die Grundsicherung und die dritten 100 Euro zu 75 Prozent angerechnet werden. Das muss auch für die Riesterrente gelten. Es darf nicht sein, dass Menschen Jahrzehnte zusätzliche Beiträge zahlen und dann fallen sie auf Sozialhilfeniveau, sobald sie in Rente gehen.

bz: Viel bliebe nach Ihren Vorstellungen von der eigenen Rente dabei aber nicht übrig.

Wicher: Wer die Rechnung nachvollzieht, der sieht, dass Menschen einschließlich Grundsicherung zumindest 850 Euro erhalten würden. Anders als bei den bisher vorliegenden Vorschlägen für eine Lebensleistungsrente würden von unserem Vorschlag viele profitieren.

bz: Altersarmut ist aber nicht nur Ergebnis der aktuellen Rentenpolitik.

Wicher: Richtig. Daher fordern wir auch Änderungen in der Familien- und Sozialpolitik wie auch in der Arbeitsmarktförderung.

Heilmann: Armut trifft Jugendliche ebenso wie Eltern mit zwei und mehr Kindern oder eben viele Senioren. Aktuell gelten bereits 17,7 Prozent aller Hamburger als arm.

Wicher: Die Spaltung der Gesellschaft schreitet in Hamburg weiter voran. Bergedorf insgesamt ist weniger betroffen, wohl aber Neuallermöhe und Bergedorf-West. Neben Arbeitslosen und Menschen in prekärer Beschäftigung leiden vor allem teilzeitbeschäftigte Frauen und Alleinerziehende. Fast jeder zweite mit zwei oder mehr Kindern lebt in Hamburg in Armut. Schlimmer ist aber noch, dass Armut, gepaart mit Bildungsferne der Eltern, den Kindern die Zukunftsperspektiven verbaut. In Hamburg leben nach unseren Zahlen bereits 58 000 Kinder in Armut. Bei den 18- bis 25-Jährigen lebt jeder fünfte unterhalb der Armutsgrenze.

bz: Wie kann diese Entwicklung durchbrochen werden?

Wicher: Es bedarf einer eigenständigen Kindergrundsicherung. Diese muss von der Erwerbssituation der Eltern stärker entkoppelt und am tatsächlichen Bedarf der Kinder und Jugendlichen orientiert sein. Und Schulessen ist wichtig, nicht nur mittags, auch Frühstück. Damit nicht Kinder mit knurrendem Magen im Unterricht sitzen. Positiv ist der Hamburger Ansatz, dass kein Schüler verloren gehen darf, durch das Raster fällt. Mit der Jugendberufsagentur unternimmt Hamburg den Versuch, den Übergang von der Schule ins Berufsleben zu begleiten. Das ist ein richtiger Ansatz. Zudem müssen Hilfen zur Erziehung weiter aktiv eingesetzt und der Allgemeine Soziale Dienst (Jugendamt) gestärkt werden.

Heilmann: Wir dürfen nicht zulassen, dass sich Bildungsferne von Familien in den Kindern reproduziert. Das Problem ist, dass längerfristige Maßnahmen heute kaum mehr finanziert werden. Ein Weg von Training der Sozialkompetenz über Berufsvorbereitung bis zu einer Ausbildung bleibt heute vielen Jugendlichen verschlossen. Wo der Staat sparen will, verursacht er tatsächlich immense Kosten. Wenn junge Menschen nicht im Arbeitsmarkt Fuß fassen, müssen wir sie ihr Leben lang alimentieren.

Wicher: Staat und Gesellschaft müssen der Perspektivlosigkeit entgegenwirken. Auch der von Migranten und der Menschen, die wegen Behinderungen oder psychischen Problemen keine Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt finden. Rehabilitationsmaßnahmen und längerfristige Förderprogramme dürfen nicht zurückgefahren oder gestrichen werden. Darüber ist dann noch das Berufsförderungswerk in Hamburg ins Schlingern geraten, eine der erfolgreichsten Einrichtungen. Das ist ein Skandal und ein Nachteil für behinderte Menschen.

bz: Politiker wie Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele argumentieren, viele Maßnahmen würden nicht die erwarteten Erfolge erbringen, seien zudem zu teuer. Wirtschaftsvertreter behaupten gar, die Förderung sei vielfach sinnlos, weil viele Langzeitarbeitslose auf dem Arbeitsmarkt nicht konkurrenzfähig seien.

Wicher: Kein Mensch darf abgeschrieben werden. Die rasch und gut vermittelbar sind, bleiben bei der Arbeitsagentur, viele andere werden aussortiert. Das darf so nicht sein. Die SPD kann sich aktuell jetzt nicht mehr herausreden. Bürgermeister Olaf Scholz war zuvor als Bundesarbeitsminister einer der Väter der Agenda 2010, die aktuelle Arbeitsministerin hat auch ein SPD-Parteibuch. Unter Kanzler Schröder wurden nicht nur Arbeitslosengeldzahlungen gekürzt, die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und die Sozialhilfe auf Hartz-IV-Niveau gedrückt, damit Millionen Menschen aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt. Zugleich wurde der Spitzensteuersatz von 53 Prozent unter Helmut Kohl auf nur 43 Prozent reduziert. Die Vermögenssteuer ist bereits seit 1997 gestrichen.

bz: Mit der Rückkehr zu den alten Steuersätzen wären jährliche Mehreinnahmen von etwa 75 Milliarden Euro, wie von Ver.di gerechnet, möglich, aber wohl nicht zu erzielen.

Wicher: Je nach Datenbasis und Umfang rechnen auch wir mit jährlichem Steuermehraufkommen zwischen 50 und 75 Milliarden Euro. Neben der Rückkehr zum alten Spitzensteuersatz und der Wiedereinführung der Vermögenssteuer fordern wir, die Körperschaftssteuer als Einkommensteuer der Großunternehmen maßvoll anzuheben. Deutschland hat im Vergleich eher niedrige Sätze in der EU. Außerdem sollte die Erbschaftssteuer angehoben und eine Transaktionssteuer (Börsensteuer) einführt werden. All dies kann geschehen, ohne dass es negative Auswirkungen auf die Wirtschaft hätte.

Heilmann: Ganz im Gegenteil. Das Geld könnte genutzt werden, um endlich ausreichend in die deutsche Infrastruktur zu investieren. Staat und Wirtschaft würden gleich doppelt profitieren: Aufträge kurbeln die sich abschwächende Wirtschaft an, sorgen für mehr Steuereinnahmen. Zugleich profitieren alle, Staat, Wirtschaft und Bürger, von nachhaltigen Verbesserungen und modernerer Infrastruktur.