Im Meer versenkte Weltkriegsmunition rostet am Ostseegrund vor sich hin. Der Nabu warnt vor Umweltkatastrophe. Sprengstoff wird auch an die Strände geschwemmt.

Lübeck. Am Spülsaum des Strandes lässt sich manches finden. Wenn man Glück hat, ist es Bernstein. Wenn man Pech hat, ist es Sprengstoff. Der Naturschutzbund (Nabu) Schleswig-Holstein warnt deshalb eindringlich davor, Angeschwemmtes unbedacht in die Hand zu nehmen. Die Folgen könnten schwere Verletzungen sein. „Jeder, der jetzt am Strand unterwegs ist, muss aufpassen“, mahnt Ingo Ludwichowski, der Nabu-Geschäftsführer.

Erst im Oktober hatte ein Spaziergänger zwischen Kiel und Eckernförde Schießwolle gefunden. Im Mai war dasselbe Material am Ostseestrand von Schönkirchen entdeckt worden, zwischen Kiel und Hohwacht. Schießwolle ist hochgiftig und steckt in nahezu jedem Sprengkörper, der im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz kam, besonders aber in Minen und Torpedos. Es ist ein explosives Gemisch aus den Sprengstoffen TNT, Hexanitrodiphenylamin und Ammoniumpulver.

Der Name Schießwolle führt in die Irre. Es handelt sich nicht um ein weiches, sondern ein hartes Material, das auch in der Färbung an einen vom Wasser abgeschliffenen Ziegelstein erinnert. Nimmt man es in die Hand, färbt sich die Haut gelb. Brandblasen können sich bilden. „In einem solchen Fall sollte man den Fund sofort fallen lassen, die Stelle sichern und den Arzt aufsuchen“, empfiehlt Ludwichowski.

Er befürchtet, dass in der Zukunft häufiger Sprengstoff angespült werden könnte. In Ost- und Nordsee wurden damals, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gewaltige Mengen von Munition entsorgt. Es war der einfachste Weg, das Zeug loszuwerden. Insgesamt sollen es rund 1,6 Millionen Tonnen gewesen sein. Die genaue Zahl ist unbekannt, die Buchführung der damaligen Zeit ist unvollständig. Mittlerweile beginnen die metallenen Hüllen der Sprengkörper zu rosten. Der Inhalt kann austreten. Er trug im Krieg die Produktbezeichnung Schießwolle 39 und bildete die sogenannte Wirkladung – also der Sprengstoff, mit dem die Munition ihre tod- und zerstörungsbringende Wirkung entfalten sollte. Bis zu 600 Kilogramm dieser Substanz befinden in einer Mine oder einem Torpedo.

Die Auflösung der Metallhülle hat noch einen anderen Nachteil. Die Detektoren können die Munition nicht mehr orten, eine Bergung wird schwerer, vielleicht sogar unmöglich. Der Nabu fordert deshalb ein „strategisches Umdenken beim Umgang mit den Munitionsaltlasten im Meer“. Es müsse nun „schnellstmöglich“ mit dem „Einstieg in die Sanierung der belasteten Flächen“ begonnen werden. Ludwichowski: „Noch besteht die Möglichkeit, die sich anbahnende Naturkatastrophe zu verhindern.“

Die Behörden halten die Lage nicht für so dramatisch. Ein Bund-Länder-Ausschuss Nord- und Ostsee koordiniert die Bemühungen, die Probleme auf dem Meeresgrund in den Griff zu bekommen. Eine Expertenkommission hat 2011 erst einmal einen umfangreichen Bericht über die „Munitionsbelastung in den deutschen Meeresgewässern“ vorgelegt. Darin heißt es zur Ostsee recht lapidar: „Im gesamten Bereich der Küsten Schleswig-Holsteins und Mecklenburg-Vorpommerns muss mit Munitionsresten aus dem Zweiten Weltkrieg gerechnet werden. Dieses Gebiet lag beispielsweise im Einsatzbereich der alliierten Luftwaffe, die bis 5. Mai 1945 sowohl massive Bombenangriffe als auch Jagdbomberangriffe auf Häfen und Schiffe durchführte. In der Eckernförder Bucht wurden durch die Torpedo-Versuchs-Anstalt der Marine (TVA) Torpedos erprobt sowie in der Neustädter Bucht durch die U-BootSchule Torpedos zu Ausbildungszwecken geschossen. Hier kann zusätzlich ein erhöhter Anteil an Torpedos erwartet werden.“

Hinzu kommen die Gebiete, in denen nach Kriegsende nachweislich Munition versenkt wurde: Beispielsweise auf Höhe der Gemeinde Schönkirchen oder vor Niendorf in der Lübecker Bucht.

Anfang 2013 erfolgte eine Fortschreibung des Berichts. Die Experten empfahlen darin, eine Zentralstelle für Vorkommnisse mit Kampfmitteln im Einflussbereich Meer ins Leben zu rufen. Außerdem sollten „neue Beseitigungsmethoden“ entwickelt und „weitergehende Untersuchungen von bekannten Munitionsversenkungsgebieten“ vorgenommen werden.

Derweil sorgen neue Eingriffe des Menschen für zusätzliche Probleme. Beim Bau der Windparks, die weit draußen auf dem Meer errichtet werden, stößt man immer wieder auf Granaten, Minen, Torpedos und auf chemische Kampfstoffe. Auch die Trasse für das Stromkabel, mit dem der Strom an Land transportiert werden soll, ist mit Munition gepflastert. Die Arbeiten haben sich deshalb schon verzögert. Vor gerade erst drei Wochen mussten im Baufeld des Offshore-Windparks „Nordsee Ost“ in der Nähe von Helgoland „nicht räumfähige Kampfmittel“ gesprengt werden. Drei Tage brauchte man dafür.