Ein Arzt der Uniklinik Göttingen soll jahrelang Krankenakten manipuliert und Patienten bei Lebertransplantationen bevorzugt haben.

Göttingen/Berlin. Gesundheitspolitiker und Transplantationsmediziner in Deutschland sind fassungslos: Um mehr Menschen zu bewegen, sich als Organspender registrieren zu lassen und damit Leben zu retten, hat der Bundestag vor wenigen Wochen ein neues Transplantationsgesetz verabschiedet, doch nun erschüttert ein Skandal am Uniklinikum Göttingen die Republik: Ein leitender Mediziner soll binnen zwei Jahren in mindestens 25 Fällen Patientenunterlagen gefälscht und somit dafür gesorgt haben, dass bestimmte Patienten eher eine neue Leber erhielten als andere, die weiter oben auf der Warteliste standen.

Das Klinikum bestätigte am Freitag einen entsprechenden Bericht der "Süddeutschen Zeitung". Martin Siess, Vorstand am Uniklinikum, glaubt nicht an einen Alleingang: "Es ist unwahrscheinlich, dass nur eine Person an den Manipulationen beteiligt war." Geld, so seine Vermutung, könnte eine Rolle gespielt haben. Eugen Brysch, Vorstand der Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz-Stiftung, geht von einer großen Verunsicherung potenzieller Organspender aus: "Wir reden hier nicht von Indien, sondern von einer renommierten deutschen Transplantationsklinik." Und ganz unabhängig von dem aktuellen Fall und dem neuen Transplantationsgesetz fordert er vom Staat, solche Skandale abzustellen: "Die Macht der Organverteilung liegt zu sehr in privater Hand, ein solches System ist nicht zur Selbstreinigung fähig."

+++ Täglich sterben drei Patienten auf der Warteliste +++

Der 45 Jahre alte Verdächtige ist als Chefarzt der Göttinger Transplantationsabteilung bereits im vergangenen November ausgeschieden, seit einigen Wochen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts, er habe einen Russen gegen Geld bei einer Lebertransplantation bevorzugt. Was aber jetzt bekannt wurde, geht weit darüber hinaus. So soll der Mediziner in den 25 von der Klinik aufgedeckten Fällen beispielsweise behauptet haben, es lägen schwerste Schädigungen der Nieren vor. Eine solche Diagnose erhöht wegen akuter Lebensgefahr die Dringlichkeit einer Transplantation erheblich. Unterlaufen wurde so der Kriterienkatalog von Eurotransplant mit Sitz im niederländischen Leiden. Dieser Katalog gilt für alle acht Mitgliedstaaten.

Zweifel, ob die Uniklinik in der Vergangenheit aufmerksam genug war, gibt es deshalb, weil gegen den Mann laut "Süddeutscher Zeitung" schon vor Jahren ermittelt worden war. Er hatte seinerzeit am Klinikum Regensburg eine für dieses Krankenhaus bestimmte Leber mit nach Jordanien genommen und dort einem Patienten eingepflanzt.

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) forderte, es müsse bei Bestätigung der jetzt erhobenen Vorwürfe Konsequenzen geben. Das Vorgehen des Mediziners sei "nicht nur gesetzeswidrig, sondern aus unserer Sicht auch höchst respektlos und unethisch".

Wie schwer der Vorwurf wiegt, machte auf Abendblatt-Anfrage die bereits seit Wochen wegen des bislang vermuteten Einzelfalls eingeschaltete Braunschweiger Staatsanwaltschaft klar. Mit Blick auf die große Zahl der Transplantationen und die Frage, ob andere Patienten sterben mussten, weil die Warteliste manipuliert war, sagte Klaus Ziehe, Sprecher der Justizbehörde, es gehe jetzt nicht mehr nur um Bestechlichkeit oder Urkundenfälschung: "Die Prüfung des Anfangsverdachts auf Körperverletzung oder ein Tötungsdelikt ist jetzt mit im Topf."

Die Ermittlungsbehörde erfuhr erst im Zusammenhang mit der Medienberichterstattung von dem schwerwiegenden Verdacht in Göttingen, obwohl bereits am Montag die Bundesärztekammer wie auch die Transplantationskommission in Berlin über das Ergebnis der internen Recherchen des Krankenhauses beraten hatten. Aus Justizkreisen erfuhr das Abendblatt, das lange Schweigen sei schwer erträglich. Es dränge sich der Verdacht auf, die Mediziner nähmen sich heraus, die strafrechtliche Relevanz des Skandals besser einschätzen zu können als die Strafverfolger. Klar ist, dass jeder neue Organskandal die Bereitschaft der Menschen mindert, sich als Organspender eintragen zu lassen. 2010 erst hatte das Landgericht Essen einen Transplantationsmediziner zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er todkranke Patienten für eine rasche Behandlung zu "freiwilligen Geldspenden" genötigt und so 150 000 Euro kassiert hatte.

Ob der 45 Jahre alte Transplantationsmediziner in Göttingen in allen 25 oder einigen Fällen oder überhaupt Geld genommen hat, ist noch völlig offen. Denkbar ist nach Einschätzung von Fachleuten auch, dass er indirekt profitierte. Lebertransplantationen sind für Universitätskliniken bei Umsätzen von bis zu 150 000 Euro je Fall eine wichtige Einnahmequelle, vor allem leitende Ärzte erhalten leistungsorientierte Zulagen, können davon also profitieren.