Vor dem Landgericht gesteht der Angeklagte Martin N. drei Morde, lässt seine Anwälte “tiefe Reue“ erklären und gibt Erinnerungslücken vor.

Stade. Die Stille ist erdrückend im Schwurgerichtssaal. Kein Knistern, kein Hüsteln. Kaum vernehmbar summt ein Generator neben der Heizung. Dann geht Babette K. in den Zeugenstand, vor ihr sitzt das Gericht und keine drei Meter entfernt, schräg links, der Mörder ihres Sohnes. Wenige Minuten zuvor hat Martin N. ein Geständnis abgelegt. Er schaut sie nicht an, er starrt nach unten oder an ihr vorbei, als sei Babette K. nicht vorhanden, als ginge ihn das alles hier rein gar nichts an.

Babette K., 41, ist die Mutter von Dennis K. Martin N., der sogenannte Maskenmann, hatte den Neunjährigen im September 2001 aus einem Schullandheim in Wulsbüttel entführt, erwürgt und seine Leiche verscharrt. Auf ganz ähnliche Weise hatte er 1992 und 1995 Stefan J., 13, und Dennis R., 8, getötet. Martin N, dem die Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht Stade neben den drei Morden 23 Missbrauchstaten zur Last legt, droht die Höchststrafe: lebenslänglich mit besonderer Schwere der Schuld. Damit kann die Haftdauer weit über 20 Jahre betragen.

Babette K. ist eine zierliche Frau mit langen, braunen Haaren. Ohne starke Beruhigungsmittel überstehe sie den Prozess gegen den Mörder ihres Jungen nicht, sagt sie mit zitternder Stimme. Sie habe auch Medikamente genommen, nachdem ihr Neunjähriger im September 2001 plötzlich spurlos aus dem Schullandheim verschwunden war. Dass der Junge getürmt war, habe sie nie geglaubt. "Er war ein ruhiges Kind, spielte gern Fußball." Zwei quälende Wochen vergingen, dann fand ein Pilzsammler die Leiche des Jungen in einem Waldstück bei Kirchtimke.

Martin N. hatte den Jungen im Schlaf geraubt, so wie er es Dutzende Mal zuvor getan hatte. Mit einer Sturmhaube getarnt, holte er die Kinder aus Zeltlagern, Schullandheimen und Wohnhäusern. Und dann zwang er sie zu sexuellen Handlungen.

Ohne jede Regung folgt Martin N. dem Geschehen im Gerichtssaal. Der 40 Jahre alte Pädagoge ist von hünenhafter Statur, hat tiefe Augenringe und trägt neuerdings einen buschigen Bart. Er sitzt da wie ein Häuflein Elend.

20 Jahre lang war er der real existierende Kinderalbtraum. Im April 2011 nahm ihn die Polizei vor seiner Wohnung in Harburg fest - ein Opfer hatte den entscheidenden Fingerzeig gegeben. Ermittelt wird zudem, ob N. für weitere ungeklärte Kindermorde in Frankreich und den Niederlanden infrage kommt.

Wenn es stimmt, was in der gestern von seinen Verteidigern verlesenen Erklärung steht, empfindet Martin N. "tiefe Reue und Scham" über seine Taten. Er sei sich bewusst, dass er für "unbeschreibliches Leid" verantwortlich sei. In der bevorstehenden, langen Haftzeit möge man ihm "eine therapeutische Behandlung ermöglichen".

Hinweise auf schwere Brüche im Leben von Martin N. finden sich in der Erklärung indes nicht: Er war drei Jahre alt, als sich seine Eltern trennten, zum Vater baute er nie eine emotionale Bindung auf. Für seinen zehn Jahre jüngeren Halbbruder sei er eine Art Ersatzvater geworden. Mit seinen Mitschülern indes habe er nie tiefe Freundschaften gepflegt, für Mädchen habe er sich "nie interessiert". Nach seinem Lehramtsstudium in Mathe und Physik habe er sein Referendariat abgebrochen, um in der Kinder- und Jugendbetreuung zu arbeiten. In Harburg war er von 2000 bis 2008 für eine evangelische Jugendeinrichtung tätig.

Was sein Leben mit seinen Taten verbindet, dazu liefert N. keine auch nur halbwegs befriedigende Erklärung. Er räumt ein, die Jungen aus "Furcht vor Entdeckung" getötet zu haben, aber er sagt nicht wie. Er gesteht die Missbräuche und bestreitet doch einen Teil der ihm zur Last gelegten Taten - oder gibt vor, sich nicht erinnern zu können, "weil alles so gleichförmig verlaufen ist". Vor allem aber gibt er keine Antwort auf die Frage nach dem Warum.

Die gestern vom Gericht verlesenen Polizeiprotokolle legen den Verdacht nahe, dass Martin N. seine Opfer häufig willkürlich auswählte. Unter Tränen hatte er seine Taten am 14. April der Polizei gestanden. Am Ende der Vernehmung brach er fast zusammen. "Scheiße gebaut", stammelte der Serienmörder, "das passt nicht zu mir. Eigentlich will ich doch nur das Beste für alle Menschen und bin total hilfsbereit."

Stefan J. hatte der Angeklagte in einem Internat bei Scheeßel gesehen, als er dort 1992 ein Seminar für Jugendbetreuer besuchte. "Der fiel mir auf, der war so süß, ich wollte ihn unbedingt wiedersehen", gestand er den Beamten. Er habe sich in das Haus geschlichen, Stefan J. in einem Zimmer entdeckt, nach draußen verschleppt und an den Händen gefesselt. "Ich wollte ihn unter der Kleidung anfassen, da fing er an, laut zu werden." Weil der Junge das Nummernschild seines Fiat Panda gesehen habe, habe er ihn getötet und in den Verdener Dünen vergraben. Ähnlich verfuhr er mit Dennis R., den er aus einem Zeltlager im Selker Noor entführte, und Dennis K., den er gewaltsam aus seinem Bett im Wulsbütteler Schullandheim holte.

Ob das Gericht eine zusätzliche Sicherungsverwahrung anordnet, hängt von der Prognose des psychiatrischen Sachverständigen Norbert Nedopil ab. Bislang hatte Martin N. beteuert, er habe nach dem Mord an Dennis K. keine weiteren Kinder missbraucht. Doch kürzlich erst wurde ein weiterer Missbrauchsfall bekannt. "Wir prüfen, ob wir diesen Fall nachträglich anklagen oder das Opfer als Zeugen vernehmen", sagte Staatsanwaltschaftssprecher Kai Thomas Breas.