Nach Bekanntwerden der Pannen im Mordfall Lena stehen Beamte aus Aurich unter dem Verdacht der Strafvereitelung im Amt. Politik räumt Fehler ein.

Emden. Ein junger Mann von 18 Jahren will einen Schlusspunkt setzen. Er will seine pädophile Neigung bekämpfen und nicht mehr das tun, was er getan hat im Oktober 2010, als er Fotos von einer Siebenjährigen machte, die er zuvor entblößt hatte.

David H. geht zur Polizei in Emden. Er zeigt sich selbst an, wegen der Fotos und der kinderpornografischen Bilder, die er gesammelt hat. Er gibt zu Protokoll, dass er schon seit zwei Monaten in der Jugendpsychiatrie in Aschendorf behandelt werde, deshalb sei jetzt auch ein Betreuer dabei. Der 18-Jährige glaubt, dass ihm dieser Schritt hilft.

Es ist der 23. November 2011, als der junge Mann bei der Polizei erscheint. Am Tag danach versucht David H., eine Joggerin in Emden zu vergewaltigen. Es werden DNA-Spuren sichergestellt, aber die Polizei findet nicht den Weg zu David H. Wäre er spätestens jetzt festgenommen worden, wäre es vier Monate später, am 24. März, womöglich nicht zu dem Mord an der elfjährigen Lena im Parkhaus gekommen. Denn auch diese Tat, die nicht nur die 50 000-Einwohner-Stadt erschüttert, soll er begangen haben.

+++ Strafverfahren gegen Polizisten +++

+++ Suche nach Tatwaffe ergebnislos +++

Die Akte David H., in der es um die Kinderpornografie geht, lag da längst bei der zuständigen Polizeiinspektion in Aurich. Von dort ging sie an die Staatsanwaltschaft in Hannover, weil hier alles zum Tatbestand Kinderpornografie in Niedersachsen zusammenläuft. Am 21. Dezember 2011 erwirkt die Staatsanwaltschaft einen Beschluss zur Hausdurchsuchung. Der trifft am 30. Dezember bei der Polizeiinspektion Aurich ein. Danach geschah - nichts.

+++ Emden: Psychiatrie-Chef weist Mitverantwortung zurück +++

Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) räumte am Mittwoch schwere Fehler von Polizisten bei früheren Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Mörder der Elfjährigen ein. "Bei sexuellem Missbrauch ist es eigentlich Standard, erkennungsdienstliche Maßnahmen durchzuführen", sagte der Minister in Hannover. Von dem 18-Jährigen hätten Fingerabdrücke und eine Speichelprobe genommen werden müssen. Dann hätte dem jungen Mann möglicherweise auch die versuchte Vergewaltigung einer Joggerin nur einen Tag nach der Selbstanzeige nachgewiesen werden können.

Die personelle Ausstattung bei den zuständigen Polizeidienststellen sei "nicht prekär" gewesen. "Nach dem Durchschauen der ersten Akten müssen wir deshalb davon ausgehen, dass es sich um individuelles Fehlverhalten handelt."

Die Staatsanwaltschaft Aurich ermittelt nun gegen zwei Beamte der Polizeiinspektion Aurich. Es bestehe der Anfangsverdacht der Strafvereitelung im Amt, teilte die Ermittlungsbehörde am Mittwoch mit. Nun müssten die Art der Aktenbearbeitung und die exakten Zeitabläufe geklärt werden. Nach Angaben der "Welt" hat die Polizeidirektion Osnabrück gegen insgesamt sechs Beamte der Polizeiinspektion Aurich ein Disziplinarverfahren eingeleitet.

Der Kriminologe Christian Pfeiffer kritisierte, die Reaktion der Polizei auf die Selbstanzeige des 18-Jährigen sei erstaunlich passiv gewesen. "Jeder weiß, gerade in diesen jungen Jahren ist man noch sehr therapiefähig", sagte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen im NDR. Wenn die Polizei konkret beispielsweise nach dem Therapeuten des Jungen gefragt hätte, "dann hätte etwas in Gang kommen können, das die ganze Geschichte gedreht hätte".

In Emden verfolgten am Mittwoch Schaulustige neue Ermittlungen der Mordkommission. Am Morgen glitten zwei Taucher ins trübe Wasser der Kanäle in den Wallanlagen, um nach der Tatwaffe zu suchen. Ob es ein Messer ist, verrieten die Ermittler nicht, ebenso wenig wie die Todesursache. "Das ist Täterwissen", sagte Einsatzleiter Martin Lammers. Zu den Ermittlungspannen von Kollegen wollte er nichts sagen.

Auch am Mittwoch entzündeten Menschen Kerzen vor dem Tatort am Emder Parkhaus. Holger Madena aus Braunschweig begleitete seine beiden acht und zwölf Jahre alten Kinder, die ihre Anteilnahme zeigen wollten: "Das ist ihnen wichtig, sie haben die Zeitungsberichte gelesen." An der Polizeiarbeit ließ Madena kein gutes Haar: "Das sind doch hier Schönwetterpolizisten. Einen Blitzer an der Straße können sie aufstellen, aber eine Hausdurchsuchung kriegen sie nicht hin." Auch andere Passanten äußerten sich abfällig angesichts der Pannenserie.

Am Abend wollten sich viele Emder vor dem Bahnhof versammeln, um einem zunächst Verdächtigten ihre Anteilnahme zu zeigen. Der inzwischen 18 Jahre alte Mann war nach einem Anfangsverdacht wieder freigelassen worden. Zwischenzeitlich hatte es Hetzparolen und Todesdrohungen im Internet gegen ihn gegeben. Die Aufforderung zur Lynchjustiz war von Staatsanwalt, Polizei und Politik scharf verurteilt worden. Auf Internetseiten der rechten Szene tauchten inzwischen wieder der volle Name und ein Foto auf. Diesmal von dem geständigen Tatverdächtigen.

Die Abläufe in Emden rufen die Erinnerung an das tragische Geschehen im November 2010 in Bodenfelde wach. Dort ermordete der 26-jährige Jan O. erst die 14-jährige Nina und fünf Tage später den 13-jährigen Tobias. Wäre es nach der Polizei gegangen, hätte er zum Tatzeitpunkt wegen Verdachts der Brandstiftung in Untersuchungshaft gesessen, die Staatsanwaltschaft aber ging nicht auf die Argumente der Polizei ein. Damit nicht genug: Als die Mutter Nina am Tag ihres Verschwindens vermisst meldete, glaubte die Polizei, das Mädchen sei nur ausgerissen. Es gab keine Suchaktionen. Erst sechs Tage später wurde die Leiche dann kaum 100 Meter vom Elternhaus entfernt in einem Waldstück gefunden. Da war Tobias gerade einen Tag tot. Er hatte sterben müssen, weil Jan O. ihn in der Nähe von Ninas Leiche sah und fürchtete, der Junge habe Ninas Leiche gefunden.