Fünf Jahre hat der als “Bremer Taliban“ bekannt gewordene Murat Kurnaz im berüchtigten Kriegsgefangenenlager des US-Militärs gesessen.

Von Murat Kurnaz hat Sandra Krupp bis zu diesem Tag noch nichts gehört. Die Lüneburgerin gehört zu den 90 Schülern, für die der Unterricht am Dienstag ins Programmkino verlegt worden ist. Das Ziel der ungewöhnlichen Schulstunde: Mehr über Menschenrechte und Demokratie sollen die Jugendlichen erfahren. Gezeigt wird die Dokumentation "Die Guantánamo-Falle". Einer der Protagonisten ist jener Murat Kurnaz, von dem Sandra noch nichts gehört hat. Der fünf Jahre unschuldig in dem amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo festgehalten worden ist. Der sich nun angekündigt hat, um mit den Lüneburger Schülern zu diskutieren.

Und dann betritt er den Saal, zieht alle Blicke auf sich. Kameras klicken, einige Schüler halten ihre Fotohandys hoch. Der Bremer Kurnaz nimmt die Aufregung um seine Person gelassen hin. Gut sieht er aus: leicht gebräunt, gesund. Äußerlich erinnert nichts mehr an den blassen Mann, der vor knapp sechs Jahren nach Deutschland zurückgekehrt ist. Der lange Bart ist ab, die Haare sind kurz. Der Mann treibt viel Sport. Das dunkelblaue T-Shirt spannt an den Oberarmen über seinem gewaltigen Bizeps. In seiner Hand wirkt das Mikrofon wie ein Spielzeug.

Der Murat Kurnaz im Film spricht ernst und bedacht. Fast ein bisschen streng wirkt der Bremer, lächeln sieht man ihn nicht. Der Murat Kurnaz auf dem Podium wirkt ganz anders, viel nahbarer. Ein junger Mann meldet sich. Er möchte wissen, warum das Ziel der spirituellen Reise, die Kurnaz so kurz nach den Terroranschlägen auf die USA 2001 unternahm, ausgerechnet Pakistan sein musste. In Saudi Arabien gebe es doch auch Koranschulen. "Gute Frage", sagt Murat Kurnaz und nickt. Dann erzählt er, dass er damals auf der Suche nach etwas gewesen sei, mehr über seine Religion, den Islam wissen wollte. In Bremen sei er in Kontakt mit der Bewegung Tablighi Jamaat gekommen. "Ein Freund hat mit der Unterstützung dieser Glaubengemeinschaft seine Drogensucht besiegt. Das hat mich beeindruckt und ich wollte mehr kennenlernen. Dass es in Pakistan gefährlich sein könnte, habe ich nicht geglaubt. Ich war nicht wirklich politisch interessiert zu dieser Zeit, ich dachte, der Krieg betreffe nur die USA und Afghanistan." Heute scheint Murat Kurnaz selbst erstaunt über seine naive Einschätzung als 19-Jähriger.

Freundlich geht er auf seine Zuhörer ein. Sogar Lacher erntet er. Die Bremer Staatsanwaltschaft hatte mit ihren Verdächtigungen mit am Mythos vom "Bremer Taliban" gestrickt. Einen Kampfanzug soll er damals besessen haben. Ob das stimmt, lautete eine Frage aus dem Publikum. "Damals waren Nylonhosen modern, mit großen Taschen an den Seiten. So eine hatte ich, die habe ich bei H&M gekauft." Die vermeintlichen Kampfstiefel seien ganz normale Lederboots gewesen, mehr nicht. Aber für die Ermittler von der Weser galten eine dunkle Hose und ein Paar Schuhe das Indizien dafür, dass Kurnaz möglicherweise mit dem Ziel nach Pakistan gegangen sein könnte, gegen die Amerikaner zu kämpfen.

Es ist nicht leicht zu glauben, dass der junge Mann auf dem Podium, der jede Frage ausführlich beantwortet, fünf Jahre unschuldig unter menschenunwürdigen Bedingungen eingesperrt war. Die Distanz zu seinen Zuhörern überwindet Kurnaz mit schonungsloser Offenheit."Niemand soll heute hier mit Fragen im Kopf nach Hause gehen. Ihr könnt mich alles fragen", sagt der Bremer und mustert sein Publikum. Eine Schülerin meldet sich, sagt, sie wolle mehr über die Verhöre wissen und druckst ein wenig herum, bis es aus ihr herausplatzt: "Wenn das in Ordnung für Sie ist: Können Sie uns mehr darüber erzählen, wie genau sie gefoltert wurden?"

Murat Kurnaz erzählt, wie ihm die amerikanischen Soldaten immer wieder Papiere vorlegten, in denen stand, er habe für die Taliban gekämpft. Als er sich weigerte, das falsche Geständnis zu unterschreiben, wurde er an Händen und Füßen gefesselt, mit Elektroschocks malträtiert oder stundenlang an den Handschellen aufgehängt. Detailliert schildert er, wie die Folterknechte im Laufe seiner fünf Jahre dauernden Haft immer neue Methoden an ihm ausprobierten. "Sie haben darauf geachtet, dass keine Narben bleiben. Zum Beispiel beim Waterboarding. Da liegt ein Gefangener gefesselt auf dem Rücken, und es wird ihm Wasser in den Mund gegossen, sodass er glaubt, er müsse ertrinken."

Ein Jahr habe er allein in einer speziell isolierten Zelle verbracht, die Eintönigkeit sei nur unterbrochen worden durch die ständigen Verhöre. Mit den Erinnerungen an diese Zeit könne er heute ganz gut umgehen, sagt Murat Kurnaz. Psychologische Hilfe habe er bislang nicht gebraucht. "Manche sagen ja, das kommt erst später, nach zehn oder zwanzig Jahren."

Immer wieder wird deutlich, dass hier einer spricht, der sich nie aufgegeben hat. Der auch in den dunkelsten Momenten wusste, dass er unschuldig war. Das Wort Todesangst steht im Raum. Nach manchen Verhören sei er vor Erschöpfung und Schmerzen ohnmächtig zusammengebrochen. "Ich hatte den Tod immer vor Augen, ich kannte Häftlinge, die es nicht überlebten. Ich kenne Menschen, denen gesunde Gliedmaßen amputiert wurden."

Nach solchen Sätzen schlucken einige im Publikum. "Wie kann man mit solchen Erfahrungen in den Alltag zurückkehren?", fragt Ann-Katrin Bode, die die Diskussionsrunde gemeinsam mit Mitschülerin Inga Meyenborg souverän moderiert. Murat Kurnaz zuckt mit den Schultern. Es sieht ein bisschen hilflos aus. "Das ist mein Schicksal. Aber ich bin ein froher Mensch, ich bin glücklich verheiratet und bin Vater. Mein Leben macht Spaß." Das sagt er mit Nachdruck. Und mit einem Lächeln. Klar, es sei nicht immer leicht. Vor allem einen Job zu finden sei mit seiner Geschichte schwierig. "Wenn manche Chefs meinen Namen hören, dann geht gar nichts." Viele ehemalige Freunde haben sich abgewandt, Halt findet er vor allem in seiner Familie.

Ob er sauer auf die deutschen Behörden ist, möchte ein Schüler wissen. Immerhin seien die dafür verantwortlich, dass er drei Jahre länger als nötig in Haft saß. Murat Kurnaz antwortet ruhig. "Ich bin Angela Merkel sehr dankbar dafür, dass sie sich dafür einsetzte, dass ich wieder nach Hause kommen durfte." Längst dauert die Diskussion länger als geplant, und noch immer gibt es Fragen.

Als die Diskussion beendet ist, springt eine Schülerin aus der letzten Reihe auf. Der Film habe ihr ein völlig falsches Bild vermittelt. "Als Sie in den Saal traten, da hatte ich Respekt, fast Angst, aber jetzt merke ich, was für ein sympathischer, humorvoller Mensch Sie sind. Da ist irgendwas furchtbar schiefgelaufen mit dem Film." Murat Kurnaz lacht. Auch Sandra Krupp ist beeindruckt. "Er war 19 Jahre alt, so alt wie ich jetzt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich reagieren würde, wenn das jemandem geschehen würde, den ich kenne."