Grünhainichen. Sie sind nur wenige Zentimeter groß, aber weltberühmt: Vor 100 Jahren schuf Grete Wendt die ersten Elfpunkte-Engel. Sie zählen bis heute zu den Aushängeschildern des erzgebirgischen Kunsthandwerks.

Noch sind die Engel-Figürchen glänzend weiß, erinnern mehr an Porzellan als an Holz. In der Drechslerei wurden die filigranen Holzteile gefertigt, später verleimt und den Figuren wurde ein Tauchbad verpasst.

Nun sitzen Heidi Swigon und ihre Kolleginnen hochkonzentriert mit Pinsel und Tupfer an mehreren Tischen und geben den Engeln das typische Aussehen: vom Haarschopf bis zum Sockel und den grünen Flügeln mit je elf Punkten. Nur das Gesicht bleibt noch frei - das übernehmen spezielle Gesichtsmaler. Vor 100 Jahren schuf die Designerin Grete Wendt die ersten Elfpunkte-Engel und setzte damit neue Maßstäbe im erzgebirgischen Kunsthandwerk.

Rückblende: 1923 - ein Jahr, das mit Hyperinflation, Ruhrkrise und dem Putsch-Versuch Adolf Hitlers als Krisenjahr in die Geschichte eingegangen ist. Einige Jahre zuvor gründete die junge Designerin Grete Wendt mit ihrer Studienfreundin Margarete Kühn in Grünhainichen eine Manufaktur. Zunächst stellen sie Lichterengel, gedrechselte Dosen und Leuchter her. Im Krisenjahr bringt Wendt & Kühn nun drei kleine Engelchen heraus. Sie sind nur wenige Zentimeter groß, mit Flöte, Geige und Fackel versehen und erobern fortan durch ihren kindlichen Anmut die Herzen vieler Menschen. Wegen der elf weißen Punkte auf den Flügeln werden sie auch Elfpunkte-Engel genannt.

Gestaltung auf dem Punkt

Engel gab es in der erzgebirgischen Volkskunst schon zuvor, vor allem als lichttragende Frauenfigur, wie Kunsthistoriker Igor Jenzen sagt. Er leitete bis 2021 das Museum für Sächsische Volkskunst der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Wendt setzt jedoch bei ihren Engeln auf das Kindchenschema. „Sie sind in Proportionen und Ausführung perfekt und genau auf den Punkt gestaltet“, konstatiert der Fachmann.

Hier zeige sich Wendts Ausbildung an der Dresdner Kunstgewerbeschule. Danach arbeitete sie zunächst für die Deutschen Werkstätten Hellerau. Beeinflusst von der Reformbewegung des Kunstgewerbes habe sie so die Qualität der erzgebirgischen Holzkunst auf ein hohes Niveau gehoben - und viele andere Werkstätten inspiriert.

Um die Engel lebendiger erscheinen zu lassen, setzt Wendt (1887-1979) auf einen kleinen Kniff: Die Arme und Beine werden schräg angeschnitten und neu zusammengesetzt. Dadurch wirken die Figuren weniger starr. Jedes Jahr kommen seither neue Elfpunkte-Engel hinzu, vor allem mit immer neuen Instrumenten. 1937 erringt die Firma für ihren Engelberg mit Madonna bei der Weltausstellung in Paris den Grand Prix und eine Goldmedaille.

„Engel gibt es vielerorts“

Über die Jahre sind weitere Figuren wie Blumenkinder, Heinzelmännchen und andere Engelfiguren ins Programm gekommen. Und die Manufaktur ist damit längst nicht allein im Erzgebirge. „Engel gibt es vielerorts im Sortiment“, konstatiert Frederic Günther, Geschäftsführer des Verbandes Erzgebirgischer Kunsthandwerker und Spielzeughersteller. So gebe es mindestens zehn verschiedene Engelorchester. Aber Wendt sei stets Qualitätsführer gewesen und die wohl bekannteste Marke des erzgebirgischen Kunsthandwerks.

Zu DDR-Zeiten galten die Figuren als „Bückware“ und wurden als Devisenbringer vor allem ins Ausland verkauft. Heute ist das wiedervereinigte Deutschland der wichtigste Absatzmarkt, verkauft werden sie zudem in mehr als 20 Länder, wie Firmen-Mitinhaberin Claudia Baer erzählt. Sie ist die Großnichte Grete Wendts. Vor allem in Nordamerika, Japan, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Skandinavien hätten die Figuren viele Liebhaber. 175 Beschäftigte hat das Unternehmen und erwirtschaftet damit laut Baer einen Jahresumsatz von etwa 10 Millionen Euro. Zum Gewinn macht sie keine Angaben.

Ein unbeschwerter Klassiker

Die Engel-Figuren sind inzwischen zu einem Klassiker geworden, stehen nicht nur für Tradition und Handarbeit, sondern auch für Harmonie und Unbeschwertheit. Gerade in den zuletzt unsicheren Zeiten von Pandemie und Krieg in Europa sei bei vielen Menschen die Sehnsucht nach solchen positiven Emotionen gewachsen, erklärte Baer. Deswegen sei die Nachfrage trotz aller Widrigkeiten hoch. Zugleich setzt das Unternehmen alles daran, die Figuren nach 100 Jahren neu in Szene zu setzen. Dabei mausern sie sich vom geflügelten Himmelsboten rund um Weihnachten hin zum Geschenk für viele Anlässe. So gibt es sie nicht nur mit einer großen Vielfalt an Instrumenten, sondern auch mit Luftballon, Herz und Kuchen oder Blumenkorb.

Zum Jubiläum schlägt die Manufaktur nun den Bogen zu den Anfängen und bringt ganz traditionsbewusst die drei Ursprungsengel in einer limitierten Sonderedition heraus: auf Sternensockel, der mit 999er Gold veredelt ist. Neu hinzu kommt ein an einer Staffelei sitzender Geburtstagsengel. Anfang April wird zudem in Grünhainichen eine Sonderausstellung öffnen, im Oktober ist dann ein Festakt mit dem Leipziger Gewandhausorchester für Sammlerinnen und Sammler geplant.