Hamburg. Stark verkehrsbelastete Ecken sind kein Ausschlusskriterium für gutes Wohnen. Das beweisen die Projekte von Architektin Karin Loosen.

Als im Oktober die Hamburger Bürgerschaft den Senat aufforderte, Potenzial für den Wohnungsbau an den großen vier- bis sechsspurigen Hauptstraßen zu prüfen, hagelte es massive Kritik. Als „totalen Mumpitz“ bezeichnete Siegmund Chychla, Geschäftsführer des Mietervereins zu Hamburg, das Konzept, und der Stadtteilbeirat Barmbek-Süd monierte: „Die sogenannten Magistralen sind in Hamburg keine Orte mehr zum Leben. Sie sind laut, dreckig und ungesund für die Anwohner.“

Karin Loosen kann die Kritiker des Magistralenkonzepts eines Besseren belehren. Mit ihrem gerade fertiggestellten Projekt „Wohnen an der Magistrale“ im Stadtteil Rotherbaum hat die Partnerin des Büros LRW Architekten und Stadtplaner den Beweis angetreten, wie komfortabel und ruhig es sich an einer der lautesten Hauptverkehrsstraßen wohnen lässt.

Karin Loosen ist auch Präsidentin der Hamburger Architektenkammer
Karin Loosen ist auch Präsidentin der Hamburger Architektenkammer © Pressebild.de/Bertold Fabricius | Pressebild.de/Bertold Fabricius

Es traute sich vorher keiner an das Grundstück

Doch es gehört schon eine gehörige Portion Mut und einiges an Fantasie dazu, ausgerechnet an dieser Straßenecke eine Anlage mit 63 Wohnungen auf einer Bruttogeschossfläche von rund 10.300 Quadratmetern zu bauen. Bei einem Besuch vor Ort muss die Architektin laut sprechen, um sich gegen den Lärm auf der vierspurigen Straße zu behaupten.

Mehr als zehn Jahre habe sich kein Investor an das schwierig zu bebauende Eckgrundstück gewagt, berichtet sie. Erst der wachsende Wohnungsmangel in Hamburg und der Trend zum Wohnen im Stadtzentrum hätten die GS Bau GmbH aus Neu-Wulmsdorf als Investor auf den Plan gerufen.

Vor 20 Jahren erstmals gezeigt, was geht

Dass der Bauträger sich für die Zusammenarbeit mit Karin Loosen entschieden hat, verwundert nicht: Die 52-Jährige – Präsidentin der Hamburger Architektenkammer – gilt als Spezialistin für schwierige Grundstücke, seitdem sie mit ihren Büropartnern Rudolf Rüscher und Thomas Winkler vor 20 Jahren das sogenannte Rote Haus in Flottbek geplant und realisiert hat, in dem sie selbst eine Zeit lang gewohnt hat.

Auch damals traute sich sonst keiner an das komplizierte tortenförmige Grundstück am Wochenmarkt Groß Flottbek heran: Es war eingeklemmt von drei angrenzenden Straßen und durch den lauten Verkehr der benachbarten Magistrale, dem Osdorfer Weg, zusätzlich beeinträchtigt .

Das Rote Haus in Flottbek war so etwas wie eine Fingerübung für das Büro
Das Rote Haus in Flottbek war so etwas wie eine Fingerübung für das Büro © HA | Oliver Heissner

Anerkennung beim Wohnbau-Preis Hamburg

Es sind städtebaulich knifflige Aufgaben wie diese, die Karin Loosen besonders reizen, sagt sie. Das Rote Haus mit den fünf Wohnungen unter einem Pultdach, benannt nach seinem ochsenblutfarbenen Anstrich, war so etwas wie eine Fingerübung für ihr Magistralen-Pilotprojekt, das vor Kurzem eine Anerkennung beim Wohnbau-Preis Hamburg erhalten hat.

Um das Hauptproblem der Lärmbelastung zu lösen, bildet in beiden Fällen der Baukörper den Blockrand und schafft damit eine Schallschutzmauer für die nach hinten liegenden Gärten beziehungsweise den Innenhof. Beim Magistralen-Projekt in Rotherbaum wurden dreifachverglaste Fenster eingesetzt. Als weitere Schutzmaßnahme gegen den Lärm „An der Verbindungsbahn“ fungieren eine Glasvorhangfassade mit Loggien, Erkern und Wintergärten sowie eine begehbare Doppelfassade als Lärmabwehr.

Fassade ist mit schmalen Mauerziegeln versehen

„Die übereinandergestapelten Maisonette-Wohnungen im Erdgeschoss verfügen aufgrund der strengen Schallschutzanforderungen über eine geringere Gebäudetiefe“, erläutert Karin Loosen, während wir die 20 Meter lange, sechsgeschossige Fassade aus hellem, schmal geschnittenem Wasserstrich-Mauerziegel entlanggehen. Leider schlagen Versuche fehl, jemanden aus dem Haus zum Thema Lärmschutz zu befragen. Zu gern wüssten wir, ob der Verkehr an der lauten Straßenseite im Haus noch als störend empfunden wird und ob die filigran gestaltete Fassade ihr Lärmschutzversprechen hält.

Schließlich müssen die Wohnungen ja auch einmal gelüftet werden. „Sie sind zum sogenannten Durchwohnen konzipiert“, sagt die Architektin und meint damit ein Ineinanderübergehen der Räume, sodass trotz der mechanischen Be- und Entlüftung ein natürliches Durchlüften zum geschützten Innenhof mit Blick auf die Parkanlagen von Planten und Blomen möglich ist.

Am Eimsbütteler Marktplatz entstanden mit diesem Gebäude vornehmlich seniorengerechte Wohnungen
Am Eimsbütteler Marktplatz entstanden mit diesem Gebäude vornehmlich seniorengerechte Wohnungen © HA | © Dorfmüller Klier und Oliver Heissner

Grundstückszuschnitt bestimmte die Gestaltung

Den Innenhof betreten wir durch die Toreinfahrt des Nachbargebäudes an der rückwärtigen Seite des Gebäudekomplexes – und sind beeindruckt von der plötzlichen Stille, die nur durch leises Vogelgezwitscher unterbrochen wird. Auch optisch erlebt der Besucher ein Kontrastprogramm. Im Vergleich zur Eleganz der einheitlich strukturierten Straßenfront enttäuscht die Hoffassade aufgrund ihrer Unruhe durch vor- und zurückspringende Gebäudeteile, weit auskragende Balkone und Fenster in den unterschiedlichsten Formen und Anordnungen.

Karin Loosen ist sich der ästhetischen Problematik bewusst. „Bei der Hoffassade hätten wir uns gern etwas mehr Ruhe gewünscht, aber das war aufgrund des Grundstückszuschnitts nicht machbar und wegen der Vielfalt der unterschiedlichen Wohntypen – von der Panoramasuite mit Dachterrasse über Mikroapartments bis hin zu den Maisonetten mit hofseitigem, individuellem Eingang –, die untergebracht werden mussten.“

Besser vorhandene Infrastruktur nutzen

Mit dem Bauherren lange über ästhetische Details zu streiten, scheint Karin Loosens Sache nicht zu sein. Dazu fehlt der gebürtigen Koblenzerin einfach das Ego. Luftschlösser zu bauen liegt ihr nun einmal nicht. Die Realistin unter den Hamburger Architekten würde wahrscheinlich Helmut Schmidts berühmtes Diktum, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, unterschreiben.

Zur umstrittenen Frage, ob das Bauen entlang der Magistralen tatsächlich ein Modell für die Bekämpfung der Wohnungsnot in den wachsenden Städten sei, hat sich die Planerin längst eine Meinung gebildet. „Natürlich! Das Thema ,Schallschutz im Wohnungsbau‘ ist wohnlich und hochwertig lösbar. Zwar wird das Bauen aufgrund der Baustelleneinrichtung, die ja stark in den öffentlichen Raum greift und den Verkehr behindert, zunächst einmal teurer. Aber man muss dafür kein neues Bauland erschließen, kann die vorhandenen Infrastrukturen besser ausnutzen und spart dadurch wieder Geld ein.“ Karin Loosen ist sich sicher, dass sie nicht das letzte Wohnquartier an einer Hauptverkehrsstraße gebaut hat.