Regensburg/Müncheberg. Viele Falterarten sind in Deutschland bereits verschwunden. Der Mensch ist dafür genauso verantwortlich wie die moderne Landwirtschaft.

Eigent­lich ist der Keilstein bei Regensburg ein Hang so ganz nach dem Geschmack eines Schmetterlings: nach Süden zur Donau hin abfallend, sonnig, ein nährstoffarmer Trockenrasen mit vielen Pflanzenarten – und zudem seit fast 25 Jahren Naturschutzgebiet. Doch als Jan Christian Habel den Hang mit Studenten Mitte Juli besuchte, war er enttäuscht. „Seltene Falterarten waren nicht mehr vorhanden“, sagt der Schmetterlingsexperte vom Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie der Technischen Universität München. „Wir haben nur Trivialarten gefunden. Und selbst bei denen sind die Bestände stark gesunken.“

Rund 3700 Arten von Faltern oder Schmetterlingen (Lepidoptera) gibt es in Deutschland, darunter – neben der riesigen Zahl an Nachtfaltern und Kleinschmetterlingen – etwa 180 oft farbenprächtige Tagfalter, die überwiegend tagsüber unterwegs sind.

Rückgang der Vielfalt um 40 Prozent seit 1840

Doch die Vielfalt schwindet: Dass Habels Eindruck am Keilstein nicht von einer zufälligen Schwankung herrührt, sondern von einem längeren Trend zeugt, zeigte gerade eine Studie, die die Entwicklung über fast 200 Jahre verfolgte. Die Forscher um Habel werteten in dem Areal um den Keilstein die Entwicklung der Bestände seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus. Flatterten in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts noch 117 Arten von Tagfaltern und Widderchen – tagaktiver Kleinschmetterlinge – am Keilberg, so waren es um 2010 nur noch 71, wie das Team im Fachblatt „Conservation Biology“ berichtet. Das entspricht einem Rückgang der Artenvielfalt um 40 Prozent.

„Nur solche Langzeitbeobachtungen können das ganze Ausmaß der Katastrophe zeigen“, sagt Habel. „Die Beobachtung über einen Zeitraum von 200 Jahren bestätigt den allgemeinen Trend, dass gerade die spezialisierten Arten stark rückläufig sind.“

Solche Spezialisten wie etwa Vertreter der Perlmutterfalter, diverse Scheckenfalter und Bläulinge sind von ganz bestimmten Futterpflanzen und Lebensräumen abhängig. Im Gegensatz dazu können Generalisten wie das Große Ochsenauge (Maniola jurtina), der Schachbrettfalter (Melanargia galathea) oder der Kleine Heufalter (Coenonympha pamphilus) Veränderungen besser verkraften.

Über 400 Spezies sind nicht mehr nachweisbar

Die rückläufigen Zahlen zeigen nicht nur den Trend für Regensburg, sondern für das ganze Bundesland und auch für die anderen Faltergruppen, wie Co-Autor Andreas Segerer betont. „In ganz Bayern sinken die Artenzahlen, und auch bei den vorhandenen Arten schrumpfen die Bestände“, sagt der Experte der Zoologischen Staatssammlung München, der erst im März einen Schmetterlingskatalog für Bayern veröffentlicht hatte.

In Bayern wurden demnach seit 1766 etwa 3250 Arten nachgewiesen. „Ab 2001 fanden wir nur noch 2819 Arten. Weit über 400 Spezies sind nicht mehr nachweisbar, was einem Rückgang von 13 Prozent entspricht.“ Dazu zählt etwa der nach der Region benannte Regensburger Gelbling (Colias myrmidone), auch Orangeroter Heufalter genannt. Die zeitliche Aufschlüsselung zeigt, wie sehr sich dieser Trend beschleunigt: Bis Ende des 19. Jahrhunderts verschwanden demnach 53 Arten, von 1900 bis 1970 waren es 138 Spezies, und von 1971 bis 2000 tauchten 226 Arten nicht mehr auf, rechnet Segerer vor und zieht die traurige Bilanz: „In den letzten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts sind mehr Arten verschwunden als in den beiden Jahrhunderten zuvor.“

Thomas Schmitt vom Senckenberg Deutschen Entomologischen Institut (SDEI) in Müncheberg bei Berlin beobachtet diese Entwicklung auch im Rest von Deutschland seit Längerem, etwa im Moseltal, bei Düsseldorf oder in der Lüneburger Heide: „Wir gehen davon aus, dass bundesweit überall tendenziell dasselbe passiert, allerdings mit regionalen Unterschieden.“

Zerstörung von Flächen entzieht Tieren die Lebensgrundlage

Doch was setzt den Tieren mit den markanten Namen, die vor allem von Mai bis September umherflattern, derart zu? „Schmetterlinge reagieren besonders sensibel auf Veränderungen ihrer Umwelt, denn viele Arten brauchen zwei Lebensräume, je nach Entwicklungsstadium“, sagt Habel. Um das zu verstehen, hilft ein Blick auf den speziellen Lebenszyklus der Tiere.

Die meisten Schmetterlingsarten leben nur wenige Wochen als adulte Falter. In dieser Zeit müssen die Männchen die Weibchen begatten. „Die Weibchen müssen dann zur Eiablage eine Stelle finden, wo die Raupe sich später entwickeln kann“, sagt Habel. „Das kann dauern, und solche Plätze müssen auch vorhanden sein.“ Denn gerade die Spezialisten unter den Faltern entwickeln sich oft nur an einer einzigen Pflanzenart, an denen die Raupen fressen, bevor sie sich verpuppen und das adulte Stadium erreichen. Doch viele solche Pflanzen sind immer schwerer zu finden. Der Hauptgrund ist nach Einschätzung aller Experten eindeutig: die intensive Landwirtschaft. Immer mehr Flächen werden zu Äckern umgewandelt, zum Anbau entweder von Lebensmitteln oder von Energiepflanzen, etwa für Biogasanlagen.

Nicht nur die Zerstörung von Flächen entzieht vielen Tieren die Lebensgrundlage, auch die Umgebung der Äcker leidet weiträumig. „Die Felder werden intensiv gedüngt, mit Gülle und Kunstdünger“, erläutert Segerer. „Die Stickstoffverbindungen dünsten in die Luft aus und verteilen sich um die Felder. Damit wird die Umgebung noch in etlichen Kilometern Entfernung mitgedüngt.“ Auch Straßenverkehr, Industrie und Viehzucht erhöhen die Menge von Stickstoffverbindungen in der Atmosphäre.

Berghexe bundesweit vom Aussterben bedroht

Das Ergebnis sah Habel mit seinen Studenten im Juli auch am Keilstein, an dessen Fuß sich kilometerweit Felder erstrecken. „Die Flächen waren total vergrast. Die Düngung lässt Gräser wachsen, die dann viele andere Pflanzen verdrängen. Das ist für viele Schmetterlingsarten fatal.“ Der hohe Bewuchs behindert die Entwicklung der Tiere gleich mehrfach. Zunächst wird es für viele Falter schwierig, durch das Dickicht zu bestimmten niedrigen Blüten etwa von Hornklee oder Sonnenröschen zu gelangen, um Nektar zu saugen oder Eier abzulegen. Außerdem stärkt die bessere Nährstoffversorgung die Blätter der Futterpflanzen, viele Raupen knabbern aber bevorzugt an geschwächten, weniger widerstandsfähigen Blättern.

Nicht zuletzt ändert der hohe Bewuchs mit der Beschattung und Abdunklung der unteren „Etagen“ auch das Mikroklima, wie Senckenberg-Forscher Schmitt betont. Sonnige, trockene Orte, an denen die Sonne bis auf den Boden gelangt, verschwinden. Die schattige Kühle dagegen verzögert die Entwicklung von Ei und Larve, zudem macht die Feuchtigkeit Eier und Puppen anfälliger für Pilze.

Gerade jene Arten, die auf diese niedrigen Bereiche spezialisiert sind, drohen angesichts der widrigen Bedingungen zu verschwinden. Die ockerbraun gescheckte Berghexe (Chazara briseis), die nur auf mageren Trockenrasen vorkommt, ist inzwischen bundesweit vom Aussterben bedroht, im Raum Regensburg wurde sie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gesehen.

Pestizide setzen den Faltern ebenfalls zu

Neben dem Dünger setzten Faltern auch die auf den Feldern eingesetzten Pestizide zu, die sich zunehmend in der Umwelt anreicherten, betont Habel. Zu denken gibt besonders, dass auch geschützte Bereiche den Tieren keine sichere Zuflucht vor den durch die Luft verbreiteten Düngestoffen und Insektiziden bieten. „Wir können die Artenvielfalt nicht einmal mehr in den Schutzgebieten erhalten“, klagt Habel. „Luftstickstoff und Pestizide machen an den Grenzen der Schutzgebiete nicht halt. Für einen effektiven Schutz müsste man schon eine Käseglocke drüberstülpen.“

Der Trend betreffe auch andere europäische Länder, sagt Schmitt: „Nach einer britischen Studie sind die Bestände des Kleinen Feuerfalters (Lycaena phlaeas) dort in 100 Jahren um 96 Prozent geschrumpft. Beim Gemeinen Bläuling (Polyommatus icarus) ist die Entwicklung ähnlich.“ Jeremy Thomas von der Universität Oxford berichtete kürzlich im Fachblatt „Science“, in der englischen Grafschaft Sussex seien im späten 19. und im 20. Jahrhundert 42 Prozent der dort vorkommenden Arten ausgestorben.

Letztlich, da geben sich die Experten keinen Illusionen hin, ist eine Lösung des Grundproblems nicht in Sicht. „Wir müssten die industrielle Lebensmittelproduktion aufgeben. Aber das wird nicht passieren“, stellt Habel fest.

Um den Faltern zumindest in seiner Wohnumgebung einen Zufluchtsort zu bieten, hat Schmetterlingsforscher Segerer in seinem Garten einen Trockenrasen angelegt. „Es ist nur ein kleiner Trittstein, umgeben von einem Meer von englischem Rasen“, sagt er. Aber damit, so hofft er, könnte er wenigstens einigen Tieren ein dauerhaftes Refugium bieten: Denn viele Falterarten, so der Forscher, sind sehr ortstreu. (dpa)