Die Forscher sprechen scherzhaft vom “Rubens-Index“ als optisches Maß für die Gewichtszunahme.

Ein tausendfaches Geschnatter ist derzeit auf Hamburgs Außenposten im Wattenmeer, der Insel Neuwerk, zu hören. Ringel- und Nonnengänse machen im April und Mai auf dem drei Quadratkilometer kleinen Eiland Rast, um sich Fettreserven für den Weiterflug in ihre arktischen Brutquartiere anzufressen. Das Naturschauspiel im Deichvorland, aber auch auf den Weiden im Herzen der Insel, vermarkten die Insulaner in diesem Jahr erstmals als "Neuwerker Gänsetage".

"Während im Schleswig-Holsteinischen Wattenmeer die Zahl der Gänse eher abnimmt, haben wir auf Neuwerk einen Aufwärtstrend", sagt Klaus Janke, Leiter des Nationalparks Hamburgisches Wattenmeer. "Das zeigt, dass sich die Gänse ungestört fett fressen können." Im vergangenen Jahr zählten die Hamburger Naturschützer jeweils an einem Apriltag die Höchstzahl von 5532 rastenden Ringel- und 814 Nonnengänsen auf der Insel. Das erfordert ein ruhiges Auge: "Kleine Gänsegruppen von vielleicht 100 Vögeln zähle ich einzeln aus", schildert Imme Schrey die Bestandsaufnahme (siehe auch "Menschlich"). Sie arbeitet für den Verein Jordsand und leitet im Auftrag der Hamburger Naturschutzbehörde das Nationalparkhaus auf Neuwerk. "Bei Gänseansammlungen von mehr als 1000 zähle ich eine Zehnergruppe und erfasse dann weitere Zehnergruppen, die ich abschätze", so die Biologin. Dabei muss sie sich beeilen. Wenn ein Raubvogel vorbeikommt oder sonst etwas die Gänse aufscheucht, fliegt alles durcheinander: Die Zählarbeit beginnt von vorn.

Die beherrschende Art unter den reisenden Gänsen ist die Ringelgans (Branta bernicla), sie ist die kleinste Gänseart. Die Schleswig-Holsteiner Kollegen liegen unter den drei deutschen Wattenmeer-Nationalparks (Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein) vorn; sie zählen jährlich im Frühjahr um die 65 000 Ringelgänse - hier rastet etwa ein Drittel des Weltbestands.

Innerhalb von zwei bis drei Wochen frisst sich jeder Vogel um die 350 Gramm Zusatzfett an - Treibstoff für den fast 5000 Kilometer langen Rückflug zur sibirischen Taymir-Halbinsel. "Aus ihren Winterquartieren in den Niederlanden und Nordfrankreich kommend, versuchen die Vögel, so nah wie möglich am Brutgebiet so viel Fett wie möglich zu bilden", sagt Hans-Ulrich Rösner vom WWF-Wattenmeerbüro in Husum. "Sie machen anschließend nur noch einen Zwischenstopp am Weißen Meer, aber das bietet ihnen weniger Nahrung."

Den Vögeln sei das zusätzliche Gewicht anzusehen, so Rösner. Fettpolster ließen das Hinterteil hängen, die Gans bewege sich schwerfälliger. Die Forscher sprechen scherzhaft vom "Rubens-Index" als optisches Maß für die Gewichtszunahme. Das Startgewicht nach der Völlerei beträgt bei den Männchen 1,65 Kilogramm, die Weibchen sind 100 Gramm leichter. Beide Geschlechter können gerade noch abheben, wenn sie bei günstigen Windverhältnissen den Flug nach Sibirien antreten. Dabei ist "Spritsparen" oberstes Gebot, damit das Fettpolster bis zum Zielort reicht. "Die Gänse können bis auf 5000 Meter aufsteigen, um sich von starken Luftströmen nach Nordosten tragen zu lassen. Sie werden beim Fliegen quasi von hinten angeschoben", sagt Nationalparkleiter Janke. Im Brutgebiet entscheiden dann vor allem Polarfüchse und Raubmöwen über den Bruterfolg und damit später auch über die Zahl der Transitflieger im Wattenmeer. In schlechten Jahren, wenn zusätzlich das Wetter nicht mitspielt, kann ein ganzer Gänsejahrgang ausfallen, in guten Jahren der Bestand deutlich wachsen.

Am besten läuft es für die Gefiederten, wenn es in Sibirien viele Lemminge gibt. Hungrige Füchse und Möwen konzentrieren sich dann auf die Nager und lassen den Gänsenachwuchs weitgehend in Frieden.

Im Herbst kehren die arktischen Gänse wieder zur Rast ins Wattenmeer zurück. Doch zu der Zeit können die Besucher weit weniger Tiere sehen als jetzt im April und Mai. Denn für den Katzensprung Richtung Niederlande und Frankreich reicht ein kleiner Fettvorrat, der in ein paar Tagen angefressen ist.