Bei der Befruchtung der Eizelle entscheidet sich, welches Geschlecht der Nachwuchs haben wird. Lagern sich zwei X-Chromosomen zusammen, wird es ein Mädchen. Treffen ein X- und ein Y-Chromosom zusammen, entwickelt sich ein männlicher Embryo. Kommt es bei frühen Zellteilungen zu Unfällen, können sich die Chromosomen auf die Zellen des Nachwuchses ungleichmäßig verteilen. Ein Beispiel ist das "Ulrich-Turner-Syndrom" bei Mädchen. Sie haben nur ein X-Chromosom und bleiben im Wachstum zurück. Ihre Eierstöcke sind funktionsunfähig, sie können aber keine Kinder bekommen.

"Von 2500 Mädchen ist eines von dieser Chromosomenanomalie betroffen", sagt Dr. Ilker Akkurt, Spezialist für Hormon- und Wachstumsstörungen im Medizinischen Versorgungszentrum am Altonaer Kinderkrankenhaus. "Wird diese Anomalie frühzeitig erkannt, kann man die Mädchen mit Wachstumshormonen so gut behandeln, dass sie eine normale Größe erreichen. Und in der Pubertät müssen sie mit weiblichen Geschlechtshormonen behandelt werden", betont Akkurt.

Wesentlich häufiger sind Anomalien bei Jungen. Von 700 Jungen hat einer ein X-Chromosom zu viel. Bei diesem Klinefelter-Syndrom kommt es in der Pubertät zu einem Hochwuchs, weil sich die Hoden in Bindegewebe umwandeln und nicht mehr ausreichend männliche Geschlechtshormone produzieren. "Aus den Jungen werden große Männer, die unfruchtbar sind."

Anomalien von Geschlechtschromosomen zählen zu den Geschlechtsdifferenzierungsstörungen. Im engeren Sinne sind das sehr seltene Störungen, bei denen das Äußere eines Menschen, die Keimdrüsen (Hoden beim Mann und Eierstöcke bei der Frau) und ihr Chromosomensatz nicht zusammenpassen. Die häufigste ist das "adrenogenitale Syndrom", das bei Mädchen bereits bei Geburt zu starken äußeren Veränderungen führt. Diese Mädchen haben Eierstöcke und Gebärmutter, doch ihre Nebennieren produzieren zu viel männliches Geschlechtshormon, sodass sich männliche äußere Geschlechtsmerkmale in unterschiedlicher Ausprägung entwickeln. Zudem sind diese Kinder lebensbedrohlich krank, weil die Nebennieren zu wenig andere Hormone bilden. "Deshalb wird jedes Neugeborene darauf untersucht. Wird eine solche Störung nachgewiesen, müssen lebenslänglich Cortisol und Aldosteron ersetzt werden", so Akkurt.

Seltener ist eine Störung, die erst später offensichtlich wird. Das sind Patienten, die bei der Geburt ein weibliches Äußeres haben, doch in der Pubertät fällt auf, dass Schambehaarung und Menstruation ausbleiben. Diese Mädchen haben einen männlichen Chromosomensatz, im Bauchraum oder an der Leiste sind auch Hoden vorhanden. Diese Androgenresistenz beruht darauf, dass die Hoden zwar männliches Hormon produzieren, aber an den Körperzellen keine Andockstellen dafür vorhanden sind. Wenn die männlichen Hormone nicht wirken können, entwickeln sich weibliche äußere Geschlechtsmerkmale. Betroffene Mädchen "brauchen eine intensive psychologische Begleitung. Sie führen weiterhin ein normales Leben als Frauen, können aber keine Kinder bekommen."