Nur ein Kribbeln im kleinen Finger. Oder aber ein großer epileptischer Anfall, bei dem die Betroffenen bewusstlos werden, stürzen und zucken. Es gibt viele Formen von Epilepsie, eine der häufigsten chronischen Erkrankungen im Kindesalter. Ein Hamburger Arzt sagt, was zu tun ist.

Wenn der Hans zur Schule ging, stets sein Blick am Himmel hing. Nach den Dächern, Wolken, Schwalben schaut er aufwärts allenthalben: Vor die eignen Füße dicht, ja da sah der Bursche nicht, also dass ein jeder ruft: Seht den Hans Guck-in-die-Luft."

"Diese Geschichte aus dem Struwwelpeter ist eine typische Beschreibung von einem Kind mit Absencen, einer speziellen Form der Epilepsie", sagt Dr. Bernd Kruse, Leiter des Arbeitsbereiches Neuropädiatrie in der Kinderklinik des Universitätsklinikums Eppendorf. Dazu gehört auch das Kinderepilepsiezentrum, das mit Unterstützung des Vereins "Hamburg macht Kinder gesund" aufgebaut wurde.

Bei den Absencen, die leicht als "Verträumtheit" verkannt werden, sind die Kinder für wenige Sekunden abwesend, nehmen ihre Umgebung nicht wahr und setzen die unterbrochene Tätigkeit danach ganz normal fort. Epilepsien können sich jedoch sehr unterschiedlich äußern. "Neben solchen Absencen gibt es auch Anfälle, bei denen jemand nur ein Zucken oder Kribbeln zum Beispiel im kleinen Finger hat. Die bekannteste Form ist der große epileptische Anfall, bei dem die Betroffenen bewusstlos werden, stürzen und zucken. Der ganze Körper verkrampft sich, es wird vermehrt Speichel gebildet, der als Schaum vor den Mund tritt, die Atmung geht stoßweise. Das Ganze kann verbunden sein mit Zungenbiss, Erbrechen, Einnässen und Einkoten. Das ist immer eine sehr dramatische Situation, aber in der Regel ist solch ein Anfall nach wenigen Minuten wieder vorbei", sagt der Spezialist für Kinderepilepsie.

Epilepsie ist eine der häufigsten chronischen Erkrankungen auch im Kindesalter und beginnt oft in den ersten beiden Lebensjahren. "Die Häufigkeit der Anfälle kann je nach Epilepsieform sehr variieren, zwischen wenigen Anfällen im Jahr bis hin zu vielen Anfällen am Tag", sagt Kruse. Der Grund für solche Anfälle ist immer eine Funktionsstörung von Nervenzellen, die unterschiedliche Ursachen haben kann. "Es gibt eine Gruppe von Epilepsien, bei denen genetisch bedingte Störungen in der Signalübertragung zwischen den Nervenzellen vorliegen. Eine weitere Ursache sind Schädigungen des Gehirns, infolge von Unfällen, Tumoren oder Entzündungen. Auch bei angeborenen Stoffwechselstörungen oder Hirnfehlbildungen können epileptische Anfälle auftreten", so Kruse. Dann gibt es noch bestimmte Faktoren, die einen Anfall provozieren können. Dazu zählen Schlafentzug, Infektionen mit Fieber, Flackerlicht (zum Beispiel das Stroboskoplicht in Discos oder Licht von PC- oder TV-Bildschirmen), Stress und bei Alkoholgenuss, insbesondere die Phase des Alkoholabbaus in der Nacht. "Ob ein solcher Auslöser zum Tragen kommt, ist allerdings von Patient zu Patient sehr unterschiedlich", betont Kruse.

Insgesamt sollte man Kindern mit Epilepsie ein normales Leben ermöglichen. "Wenn Faktoren bekannt sind, die bei dem Kind Anfälle provozieren, sollte man diese vermeiden. Und wenn eine Epilepsie neu diagnostiziert ist, sollten die Kinder nicht ohne Begleitung schwimmen gehen, bis die Erkrankung gut eingestellt ist, da bei einem unbeobachteten Anfall im Wasser (auch in der Badewanne) Ertrinkungsgefahr besteht. Ansonsten halte ich es aber nicht für sinnvoll, Kindern oder Jugendlichen zusammen mit der Diagnose einer Epilepsie grundsätzlich alles zu verbieten, was eventuell einen Anfall auslösen könnte. Damit würde man sie noch zusätzlich für diese Krankheit bestrafen", sagt Kruse. "Vielmehr muss über eine intensive Aufklärung der Patienten und Familien über mögliche individuelle Risikofaktoren und deren Vermeidung informiert werden."

Zur Untersuchung einer Epilepsie gehört eine genaue Schilderung der Anfälle, die für eine Klassifizierung und Therapieentscheidung wichtig ist. Im EEG, der Ableitung der elektrischen Hirnströme, zeigen sich typische Epilepsiezeichen. Oft wird auch eine Kernspintomografie zur Aufdeckung möglicher Hirnveränderungen eingesetzt.

An erster Stelle in der Behandlung steht die medikamentöse Therapie. "Mittlerweile gibt es eine neue Generation von Medikamenten, die mit weniger Nebenwirkungen besser verträglich sind als die älteren und auch nicht durch regelmäßige Blutuntersuchungen kontrolliert werden müssen. Die große Mehrzahl der Patienten kann mit Medikamenten so gut behandelt werden, dass keine Anfälle mehr auftreten. Manchmal reicht ein Medikament nicht aus, und es müssen mehrere unterschiedliche Substanzen eingenommen werden. Nach mehreren Jahren Anfallsfreiheit können die Medikamente unter Umständen wieder abgesetzt werden", sagt Kruse.

Treten trotz Medikamenten noch Anfälle auf, gibt es weitere Therapiemöglichkeiten. "Lässt sich im Gehirn ein umschriebenes Areal nachweisen, das für diese Anfälle verantwortlich ist, kann man diesen Bereich mithilfe der Epilepsiechirurgie gegebenenfalls herausoperieren. Dazu ist jedoch eine vorherige intensive Diagnostik in spezialisierten Zentren notwendig. Besteht keine Möglichkeit einer operativen Therapie, kann man den Patienten eventuell mit einem Vagusnerv-Schrittmacher helfen. Dabei wird ein Schrittmacher unter der Haut eingesetzt, der über eine Elektrode den Vagusnerv am Hals stimuliert. Dieser Nerv wiederum sendet Impulse ins Gehirn, die dort die Entstehung der Anfälle unterdrücken." Zudem kann man die Kinder auch mit einer bestimmten Diät behandeln, bei der der Fettanteil der Nahrung stark erhöht und der Kohlenhydratanteil reduziert wird. "Dadurch erreicht man Veränderungen im Stoffwechsel, die ebenfalls einen antiepileptischen Effekt haben."

Kommt es zum epileptischen Anfall, sollte man folgende Erste-Hilfe-Maßnahmen beachten: "Die Patienten sollten so gelagert werden, dass sie sich nicht verletzen können und wenn nötig und möglich in die stabile Seitenlage gebracht werden, sodass die Atemwege freigehalten werden. Man soll nicht versuchen, den Betroffenen einen Keil oder einen anderen Gegenstand in den Mund zu schieben, weil dadurch eher eine weitere Verletzungsgefahr besteht. Bei einem Anfall, der länger als circa drei Minuten dauert, kann, falls vorhanden, eine Bedarfsmedikation zur Anfallsunterbrechung unmittelbar verabreicht werden. Dauert der Anfall länger als zehn Minuten, ist er als Status epilepticus und damit als Notfall zu behandeln und muss medizinisch versorgt werden. Das bedeutet, in solchen Fällen ist ein Arzt hinzuziehen."

Die Krankheit Epilepsie bringt neben den medizinischen Anforderungen noch andere Probleme mit sich, denn immer noch haben Betroffene mit Vorurteilen zu kämpfen. So denken immer noch viele Menschen, eine Epilepsie sei automatisch mit einer geistigen Behinderung verbunden oder einer Geisteskrankheit. "Das stimmt nicht. Nach einzelnen epileptischen Anfällen sind keine Folgeschäden am Gehirn zu erwarten", betont Kruse. "Erst das Auftreten von langen, häufigen oder besonders schweren Anfällen kann Risiken für eine chronische Hirnschädigung darstellen."

Man könnte den Patienten viel Leid ersparen, wenn die seit Hippokrates als "heilige Krankheit" bezeichnete Erkrankung endlich von der Mystik befreit wird, mit der sie von alters her belegt wird. Die Auswüchse dessen zeigten sich besonders im Mittelalter, als diese Patienten mit Teufelsaustreibungen behandelt wurden. Noch heute herrscht bei diesem Thema große Befangenheit in der Bevölkerung.