Die genetischen Voraussetzungen für mehr als 3000 Krankheiten sind bekannt. Aber viele Betroffene wollen nichts über ihr Risiko wissen.

Alzheimer, Mucoviszidose, Chorea Huntington, Brustkrebs, Muskeldystrophie oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen - ein Tropfen Blut genügt, um die genetische Veranlagung zu erkennen. Für mehr als 3000 Krankheiten ist eine genetische Grundlage bekannt, für 742 Krankheiten stehen in Deutschland routinemäßig Gentests zur Verfügung, mehr als 2000 können analysiert werden. "Angeboten werden diese Gentests in Deutschland von mehr als 110 Laboren, Kliniken oder Fachpraxen", sagte Prof. Jörg Schmidtke. Der Humangenetiker der Medizinischen Hochschule Hannover hat am Bericht "Gendiagnostik in Deutschland" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) mitgewirkt. Er wurde kürzlich in Berlin vorgestellt - rechtzeitig vor den Beratungen eines Gendiagnostik-Gesetzes im Deutschen Bundestag.

Bereits vor Jahren hatten Schmidtke und sein Team in einer bundesweit einmaligen Studie Patienten, deren Eltern an einer Eisenspeicherkrankheit (Hämochromatose) litten, einen Gentest angeboten. "Sie hätten sofort erfahren, ob sie die genetische Disposition für diese Krankheit von ihren Eltern geerbt hatten. Aber nur fünf Prozent der Patienten, die von der Untersuchungsmöglichkeit erfahren hatten, haben sich testen lassen, und das, obwohl eine einfache Therapie den Ausbruch dieser Krankheit verhindert", erzählt der Humangenetiker. Man muss nämlich nur regelmäßig Blut spenden.

Genetische Diagnostik ist zwar das wichtigste Anwendungsgebiet der Humangenomforschung, aber es ist immer noch nicht sonderlich populär. Ein Grund ist wohl, dass nur wenige Gentests so aussagekräftig sind, dass sie sicher vorhersagen, dass der Träger einer Variante irgendwann erkrankt. Die meisten Tests machen den Ausbruch einer Krankheit nur mehr oder minder wahrscheinlich - nicht immer erlaubt es das Wissen, die Krankheit zu verhindern.

Dabei gibt es durchaus Gentests, die Leben retten können. "So weitet sich bei einer angeborenen Bindegewebserkrankung, dem Marfan-Syndrom, die Hauptschlagader zunehmend. Irgendwann reißt die Aorta, wenn das nicht rechtzeitig behandelt wird. Meist erfolgt dieser Eingriff, wenn die Patienten Ende 20 sind. Nun gibt es aber eine genetische Kombination, die dazu führt, dass sich das alles sehr viel früher abspielt. Würde man alle Patienten, die am Marfan-Syndrom leiden, genetisch testen, könnte man diese Hochrisikogruppe finden und retten", erläuterte Schmidtke.

Auch der Gentest auf eine Variante im Blutgerinnungs-Gen (Faktor-5-Leiden-Mutation) zählt dazu. Bei jeder Frau, in deren Erbgut diese Mutation schlummert, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, an einer Thrombose zu erkranken, deutlich, wenn sie die Pille nimmt. Vorsorglich lassen daher viele Frauenärzte ihre Patientinnen testen, bevor sie die Pille verschreiben. "Es ist praktisch der einzige pharmakogenetische Test auf Gen-Ebene, der in großem Umfang durchgeführt wird", so Schmidtke.

Der Humangenetiker würde Patienten auch beraten, wenn es keine oder keine optimale Therapie gibt. "Wenn ich weiß, dass mein Patient unter der Ungewissheit leidet, ob er von seinen Eltern die genetische Disposition für eine Krankheit geerbt hat oder nicht, dann würden wir vielleicht mit einem Psychologen darüber entscheiden wollen, ob der Test ihm nicht hilft, seine Zukunft unbeschwerter zu erleben." Prof. Ferdinand Hucho von der FU Berlin, der die Arbeitsgruppe "Gentechnologie" an der BBAW lange geleitet hat, ist vorsichtiger. Noch wisse man zu wenig darüber, wie (Ver-)Stimmungen die Gesundheit beeinflussen. Er wollte nicht ausschließen, dass eine schlechte Diagnose selbst die Krankeit auslösen könne.

Erst langsam legen Human-, Zell- und Molekularbiologen, Mediziner und Genomforscher das ebenso komplexe wie komplizierte Wechselspiel von Genen und Umwelt frei. Das zu verstehen, ist eine Voraussetzung, damit die sogenannte Nutrigenomics (Ernährungsgenetik) wissenschaftlich solide verankert wird. Einige Gentech-Firmen bieten Tests an, um die individuelle Ausstattung zu erkunden und den Lebensstil auf das Genprofil abzustimmen. "Ich würde gern in den Laboren einmal Mäuschen spielen. Wir können leider nicht herausfinden, wie groß der Anteil der Lifestyle-Tests ist. Das macht uns Sorgen, weil solche Angebote auf lange Sicht die Seriosität erschüttern", so Schmidtke. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen sei es bislang unsinnig, seinen Speiseplan entsprechend einer Nutrigenomics-Analyse zu gestalten. Dabei gäbe es durchaus sinnvolle Einsatzgebiete: Würde man beispielsweise nachweisen, dass es eine genetische Veranlagung gibt, die dazu führt, auf den Verzehr von Saubohnen mit dem Zerfall der roten Blutkörperchen zu reagieren, der im schlimmsten Fall zum Tod führen kann, wäre das ein sinnvoller Gentest. Denn am Favismus, wie diese Enzym-Krankheit genannt wird, leiden weltweit 400 Millionen Menschen, vor allem im Mittelmeerraum, im Mittleren Osten, Afrika und Südostasien.

Den Autoren des Berichtes bereitet Sorge, dass es immer mehr Anbieter gibt, die ihre Angebote per Internet verkaufen, ohne dass die Qualität der Tests gesichert ist. Noch fehlen klare Regeln. "Welche Tests angewendet werden sollten, die Entscheidung kann man in die Hände der Ärzte legen. Schließlich entscheiden sie schon heute darüber, welche diagnostischen Maßnahmen sinnvoll sind." Die Gendiagnostik sei nur eine weitere Möglichkeit, "ebenso wie die Entscheidung, welche prädikativen genetischen Untersuchungen sinnvoll sind", so Schmidtke, der keinen Grund sieht, genetische Daten anders zu behandeln als andere sensible Gesundheitsdaten.

Doch wer darf welche genetischen Daten zu welchem Zeitpunkt in die Hände bekommen? Noch dürfen Arbeitgeber keine Gentests verlangen, noch verzichten Versicherungen auf Genchecks - aber dieses freiwillige Moratorium läuft 2011 aus.