Hamburg. Jedes Jahr sind es in Deutschland etwa 60 000 Kinder, die vorzeitig die schützende Geborgenheit des Mutterleibes verlassen müssen. "Als Frühgeborene bezeichnet man die Kinder, die vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen", sagt Dr. Axel von der Wense, Leitender Arzt der Abteilung Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin im Altonaer Kinderkrankenhaus.

Der Fall der kleinen Amillia ist für ihn kein Anlass für allzu großen Optimismus: "Laut einer umfangreichen Studie beträgt die Überlebensrate für Frühgeborene kurz nach der 22. Schwangerschaftswoche fünf Prozent, und die Chance, ein Leben ohne Behinderungen zu führen, liegt nach 22 Schwangerschaftswochen bei einem Prozent."

Bei Frühgeburten in diesem Grenzbereich um die 22. Schwangerschaftswoche diskutieren die Ärzte im Altonaer Kinderkrankenhaus sehr intensiv darüber, ob es ratsam ist, den Start ins Leben aktiv zu unterstützen. Denn es geht nicht nur um das Überleben, "sondern auch darum, dass das Kind ein menschenwürdiges Leben führen kann". Entscheidend dafür, wie das Neugeborene seinen Frühstart ins Leben übersteht, ist die Reife der Organe, insbesondere der Lunge.

"Nach 22 Schwangerschaftswochen ist die Lunge von ihrer Struktur her in der Regel noch nicht dazu in der Lage, Sauerstoff aufzunehmen. Da stoßen wir als Ärzte an Grenzen, die auch dank modernster intensivmedizinischer Behandlungsmethoden nicht zu überwinden sind. Das ist in den USA nicht anders als in Deutschland", sagt von der Wense. Doch nicht nur die Lungenunreife führt zu schweren Problemen. Da das winzige Kind noch nicht selbstständig atmen kann, muss es künstlich beatmet werden, der ganze Kreislauf muss sich umstellen. Im Rahmen dieser Umstellung kommt es zu Blutdruckschwankungen, die zu Gehirnblutungen führen können.

"In diesem Grenzbereich zwischen der 22. und 23. Schwangerschaftswoche steigen die Überlebenschancen des Kindes mit jedem Tag, den es länger im Mutterleib verbringt", sagt von der Wense. Nach der 24. Schwangerschaftswoche hat das Kind bereits eine Überlebenschance von 60 Prozent. Aber nur etwa ein Drittel wird gesund, ein Drittel hat leichtere, ein weiteres Drittel schwere Behinderungen - so massiv, dass das Kind dauerhaft fremde Hilfe benötigt oder sogar schwere spastische Lähmungen hat, die es sein Leben lang an einen Rollstuhl fesseln.

"Ein weiteres großes Handicap sind schwere Seh- und Hörstörungen oder geistige Behinderungen, die so schwer sind, dass das Kind später keine Schule besuchen kann", sagt von der Wense. Als leichte Behinderungen gelten zum Beispiel Rechen- oder Lese-Rechtschreibschwäche oder leichte Bewegungsstörungen. Sie hindern das Kind nicht daran, sein weiteres Leben weitgehend selbstständig zu führen. In der 26. Schwangerschaftswoche überleben bereits 85 Prozent der Frühgeborenen, und auch der Anteil der bleibenden Behinderungen ist geringer.

Doch ob sich das Kind wirklich normal entwickelt und wie seine Chancen auf eine gesunde Zukunft sind, kann man erst beurteilen, wenn man seine Gesamtentwicklung betrachtet. "Erste Anhaltspunkte für spätere Schäden sieht man meistens erst im Alter zwischen anderthalb und zwei Jahren", betont von der Wense.