Chirurgie: Wie ein alltägliches Handwerkszeug für den OP entsteht - ein Besuch in Norderstedt bei der Firma Ethicon, dem weltweit größten Hersteller von Nahtmaterial.

Über der Eingangstür hängt ein großes Schild "Weißer Bereich", das bedeutet: einen grünen Kittel anziehen, Schutzbezüge über die Schuhe streifen und ausgiebig die Hände waschen. "Das ist zwar noch nicht so wie im Operationssaal", sagt Armin Richard, Kundenbetreuer bei der Firma Ethicon. Trotzdem ist peinliche Sauberkeit angesagt, weil in diesen Räumen einer der Fäden entsteht, die tagtäglich zum Handwerkszeug eines Chirurgen gehören. Wir sind zu Gast bei dem weltweit größten Hersteller von chirurgischem Nahtmaterial. Hier in der Ethicon-Niederlassung in Norderstedt werden ganz spezielle Fäden hergestellt, und zwar solche, die sich nach längerer Zeit im Körper, wenn die Wundheilung abgeschlossen ist, von selbst auflösen. Diese resorbierbaren Fäden sind überall auf der Welt in Gebrauch, wenn es darum geht, bei Operationen, zum Beispiel Schleimhaut, Magen, Sehnen und Bänder, das Bauchfell oder kleine Blutgefäße, wieder zusammenzunähen. Sie bestehen aus 16 Einzelfäden, die nach einem komplizierten System miteinander verflochten werden. In der Produktionsstätte in Norderstedt legen sie einen Weg von sechs Wochen zurück, bis sie die Sterilisation durchlaufen und dann an Krankenhäuser und Arztpraxen ausgeliefert werden. Im ersten Raum stehen große unscheinbare Dosen aus Weißblech, in denen das Rohmaterial, in Stickstoff verpackt, aus den USA angeliefert wird. Es besteht aus unterschiedlich dicken blauen Kunststofffäden, die auf großen Rollen aufgespult sind. Die haarfeinen Fäden werden aus ihren Dosen befreit und im ersten Schritt erst einmal auf ihre Reißfestigkeit geprüft. Denn das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Nähte, die später von den Ärzten an Darm oder Gefäßen angelegt werden, auch halten und keine lebensgefährlichen Komplikationen verursachen. Wenn sie diesen Test ohne Beanstandungen passiert haben, werden sie an großen Automaten auf kleine Klöppelspulen umgespult. Und nun soll aus 16 haarfeinen Fäden einer werden. In langen Gängen stehen die Automaten dicht an dicht nebeneinander, in den jeweils 16 Klöppelspulen eingespannt sind. So schnell, dass es mit dem bloßen Auge kaum zu sehen ist, und mit einer Lautstärke, bei der man sein eigenes Wort kaum versteht, werden jetzt um einen zentralen Faden, der aus einem bis drei Rohfäden besteht, 16 Fäden umeinander geflochten. Findet der Automat dabei in einem Faden einen Fehler, bleibt er stehen, und einer der weiß gekleideten Mitarbeiter muss die schadhafte Stelle beseitigen und durch einen Knoten ersetzen. Wenn dieser Vorgang abgeschlossen ist, ist zum ersten Mal der Faden zu sehen, der schließlich am Ende der Produktionskette steht. Erst einmal wird er gestreckt und gebügelt und nimmt dadurch eine dunklere Farbe an. Im nächsten Schritt steht wieder die Sicherheit im Vordergrund. Die Rolle wird abgespult und der Faden durch eine Lichtschranke geschickt. Wenn die Maschine auf einen Fehler stößt, schneidet sie selbstständig das fehlerhafte Stück heraus und macht einen neuen Knoten. Dann wird der Faden von den Spulen auf einen großen Rahmen gebracht, der zwei Stunden in eine alkoholische Lösung getaucht und anschließend sechs Stunden getrocknet wird. Auch diese Rahmen werden wieder auf Schäden untersucht. Eine Mitarbeiterin steht davor und kontrolliert, ob sich Unregelmäßigkeiten in den Fäden zeigen. Wenn ja, nimmt sie ein Stück heraus und verknotet die Enden neu. Eine Arbeit, die für die Augen sehr anstrengend ist. "Alle zwei Stunden haben die Angestellten eine zehnminütige Pause, damit sich ihre Augen ein wenig davon erholen können", berichtet Richard. Haben die Fäden diese Prüfung hinter sich, werden sie erneut auf Spulen gewickelt und anschließend imprägniert. Dann werden sie ein letztes Mal umgespult, nochmals auf Reißfestigkeit getestet und erhalten einen Stempel, der sie zur weiteren Verwendung für geeignet erklärt. Bis zu diesem Punkt sind bereits sechs Wochen des Produktionsprozesses vergangen. Jetzt geht es darum, die Fäden mit den halbrunden Nadeln zu verbinden, so dass sie die Form, erhalten, in der sie dann auf dem Instrumententisch des Operateurs landen. 80 Prozent dieser Nadel-Faden-Verbindungen erledigt eine Maschine, voll- oder halbautomatisch. "Es bleiben 20 Prozent, die für besonders sensible Bereiche wie Herz- und Gefäßnähte vorgesehen sind", so Richard. In einem großen Saal sitzen ausgebildete Mitarbeiterinnen an langen Tischen und verbinden in mühsamer Kleinarbeit Nadel und Faden miteinander. Sie schneiden ein etwa 30 Zentimeter langen Faden von der großen Rolle, tauchen ein Ende in einen Kleber und stecken es dann in ein kleines Bohrloch am Ende der Nadel. Bei den dünnsten Fäden, die zum Beispiel für Augenoperationen Blutgefäßen benutzt werden, und die kaum noch zu erkennen sind, geht das nur unter einem Mikroskop. "Die Frauen, die am Mikroskop sitzen, sind schon wahre Künstlerinnen", erzählt Richard. Pro Tag stellen sie etwa drei- bis vierhundert dieser Nadel- und Faden-Verbindungen her. Am nächsten Tag wickeln sie die dünnen Stränge auf und verpacken sie in kleinen Pappschachteln. Bevor sie dann vertriebsfertig sind, müssen sie nochmal zwei bis drei Wochen in einem komplizierten Sterilisationsverfahren absolut keimfrei gemacht werden. Erst dann kann das Päckchen auf die OP-Tische wandern, und so mancher unter dem Krankenhauspersonal, das Richard fast täglich durch diese Räume führt, staunt darüber, wie viel Handarbeit in unserem hochtechnisierten Zeitalter noch in solch einem Faden steckt. EIN BLICK IN DIE GESCHICHTE DES NAHTMATERIALS Die Geschichte der chirurgischen Wundnaht reicht zurück bis in das Altertum. Erste eingehende Beschreibungen der Wundnaht und des dabei verwendeten Nahtmaterials, zum Beispiel Bogensehnen, stammen von dem indischen Arzt Susruta, etwa 500 Jahre v. Chr. Der römische Arzt Galen (129-199 n. Chr.) empfahl dünne Darmsaiten, um blutende Blutgefäße zu unterbinden. Auch Seide wurde damals dafür verwendet. Das Problem der Wundinfektionen durch unsauberes und keimhaltiges Nahtmaterial wurde aber erst im 19. Jahrhundert von den Chirurgen Joseph Lister und Kurt Schimmelbusch gelöst, die die ersten Desinfektions- und Sterilisationsverfahren entwickelten. Auf der Suche nach Nahtmaterialien, die sich nach Operationen allmählich im Körper auflösten, fand Lister 1868 das geeignete Material in der aus Schafsdärmen hergestellten Darmsaite. Dieses Catgut blieb bis in unsere Zeit ein beliebter Standardfaden. Im Zuge der Debatten um BSE wurde es 2001 auf Empfehlung des wissenschaftlichen Beirates der EU vom Markt genommen, um ein Infektionsrisiko auszuschließen.