Neuro-Wissenschaft: Gehen, Laufen, Springen - wie Bewegung gesteuert wird

Wer sich nicht bewegen kann, gilt als hilflos. Bewegung gehört zum Leben. Schon der Fötus im Mutterleib steckt seine Finger zielgerichtet in den Mund oder reagiert auf Geräusche. Immer wenn Muskeln eine willkürliche Bewegung ausführen, brauchen sie einen Befehl - ob sie ein Augenlid öffnen oder den Mund schließen, die Hand einen Gegenstand greift oder ein Fuß vor den anderen gesetzt wird. "Immer ist dabei das Gehirn im Spiel", sagt Privatdozent Dr. Alexander Münchau, Neurologe am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Im Kopf sitzt die Steuerzentrale. Übertragen werden die Befehle von Nervenbahnen, die vom Gehirn zum Rückenmark verlaufen. Von dieser Hauptstrecke geht es über ein weit verästeltes System bis zu jedem Muskel. Das Ergebnis: ein umfangreiches Bewegungsrepertoire, das uns hilft, unser Leben zu meistern.

Im einzelnen läuft das beim Griff nach einem Glas etwa so ab: Das Auge liefert die Information, wo das Glas steht, ans Gehirn. Motorische Areale im Frontallappen planen die Bewegung und geben den Befehl zum Rückenmark. Neurone übermitteln von dort das Kommando zu den Muskeln, die zum Glas greifen. Die Finger registrieren die Berührung. Darauf erfolgt die Rückmeldung an den Teil der Hirnrinde, in der Informationen der Sensibilität verarbeitet werden: Das Glas ist sicher in der Hand.

Was einfach klingt, basiert auf einem Wechselspiel - es wird kontrolliert, korrigiert. Probleme tauchen auf, sobald das Zusammenspiel aus den Fugen gerät. Denn hinter der Mechanik der Bewegung steckt ein System von Impulsen, bei dem auch schwach-elektrische und chemische Faktoren eine Rolle spielen. Treten dabei Fehler auf und schafft es der Körper nicht, die Defekte zu beheben oder die gestörten Funktionen durch andere Stellen zu ersetzen, kommt es zu Aussetzern: Der Mensch wird krank.

Betrachten wir die Basalganglien. In diesen Kerngebieten in der Tiefe des Gehirns helfen Nervenzellen, Bewegungen zu steuern, die bei Gesunden automatisch ablaufen: gehen, laufen, springen, den Körper aufrecht halten. Fehlt es in einer der Hirnregionen am Botenstoff ("Neurotransmitter") Dopamin (so bei Parkinson), über den Impulse zwischen den Nerven vermittelt werden, kann der menschliche Wille, eine bestimmte Bewegung auszuführen, ins Leere laufen. Andererseits können Betroffene mitunter nicht verhindern, daß es zu Extrabewegungen kommt. Ein Beispiel: unkontrolliertes Zittern ("Tremor") der Parkinson-Kranken (siehe Extra-Text).

Die Nervenbahnen sind das Bindeglied zwischen unserem Kopf und den Muskeln. Gibt der Kopf den gesunden Muskeln ein Kommando ("Greif das Glas!"), passiert nichts, wenn die übertragenden Nervenleitungen zerstört sind, etwa bei Verletzungen ("traumatischen Schädigungen") der Nervenbahnen oder bei neurodegenerativen Erkrankungen, also solchen, die zum Untergang von Nervenzellen führen (z. B. Amyotrophe Lateralsklerose - ALS, siehe Extra-Text). Doch gibt es auch Erkrankungen, bei denen defekte Steuerzellen nur vorübergehend zum Bewegungsausfall führen, so bei manchen Schlaganfällen. Bei rechtzeitiger Therapie können in vielen Fällen die Aufgaben der nicht mehr wiederherzustellenden Zellen von anderen Hirnregionen übernommen werden. Oft mühsam, aber es geht. Der Patient muß dann wieder "lernen", Arm oder Bein zu bewegen, oder er muß sich mit hartem Training all jene Wörter aneignen, die ihm vorher so mühelos von den Lippen gegangen sind. Denn auch der menschliche Sprechapparat ist nichts anderes als ein Instrument für wohl abgestimmte Bewegungen. Manchmal verselbständigen sich Bewegungen, die in anderem Zusammenhang durchaus ihren Sinn haben: Naserümpfen, sich kratzen, blinzeln, Augenverdrehen oder Schulterzucken werden zu einer lästigen Auffälligkeit, wenn sie ohne ersichtlichen Grund ablaufen.

Solche "Tics" sind im Kindesalter die "häufigsten Bewegungsstörungen", sagt Münchau. Studien aus England hätten belegt, daß im Vorschulalter zwei bis drei Prozent der sonst normalen Kinder von Tics betroffen sind. Bei den meisten verschwänden die Symptome vor dem 18. Lebensjahr, sagt Münchau. Wahrscheinlich handele es sich um eine Entwicklungsstörung des Gehirns, "jedenfalls nicht um eine psychische Krankheit".

Die genauen Gründe sind nicht bekannt. Betroffene Kinder zeigen häufig noch eine andere Auffälligkeit: Sie ahmen in erstaunlicher Weise nach, wenn man ihnen Bewegungen vormacht, z. B. eine Grimasse schneidet. Dieser Nachahmeffekt ist in der kindlichen Entwicklung eine wichtige Voraussetzung, damit Kinder etwas lernen. Bei Kindern mit "Tics" hat er sich wahrscheinlich zu unpassender Zeit verselbständigt. Diese Fehlsteuerung kann nützlich sein - fürs Imitieren beim Theaterspiel, sie kann aber bei Eltern und Lehrern auch erhebliche Ärgernisse hervorrufen und durch Tadel die Kinder sehr verunsichern.