Erst 20 Jahre später wird das Ausmaß bekannt. 60 Millionen Bäume sind wie Streichhölzer umgeknickt. Aber es gibt keinen Einschlagkrater eines Meteoriten. Ist er zuvor spektakulär verglüht?

Barometer in England registrieren eine Luftdruckwelle, die zweimal um den Globus eilt. Seismometer in Washington zeichnen Erdbebenwellen auf. Magnetometer in der russischen Stadt Irkutsk nahe dem Baikalsee messen vier Stunden lang ungewöhnliche Variationen des Erdmagnetfelds - die Welt registriert eine Katastrophe, die sich in den frühen Morgenstunden des 30. Juni 1908 über Zentralsibirien abspielt. Doch erst 20 Jahre später wird das Ausmaß der Zerstörung bekannt. Der junge Mineraloge Leonid Alexejewitsch Kulik, der die Meteoriteneinschläge in der Sowjetunion dokumentieren soll, reist zum Ort des Grauens in der sibirischen Taiga. Nahe der Stadt Vanavara am Fluss "Steiniger Tunguska" entdeckt er, dass auf 2150 Quadratkilometern 60 Millionen Bäume umgeknickt sind wie Streichhölzer. Auf einer Fläche fast so groß wie das Saarland liegen alle Bäume wie Mikado-Stäbe von einem Mittelpunkt weg. Im Zentrum des Gebietes blieben die Bäume allerdings stehen. Es sieht gespenstisch aus. "Ihrer Äste beraubt, ragten die Stämme wie Telegrafenmasten in den Himmel." "Der Telegrafenstangenwald, wie Kulik notierte, war von oben versengt worden", zitiert Dr. Jochen Schlüter, Direktor des Mineralogischen Instituts der Uni Hamburg, aus alten Berichten. "Noch 600 Kilometer vom Ort des Unglücks entfernt sahen Reisende der Transsibirischen Eisenbahn einen gleißenden Feuerball über den Himmel huschen. Kaum war dieser am Horizont verschwunden, erfolgte eine gewaltige Explosion, die noch in 1000 Kilometer Entfernung zu hören war." Doch am Ort des Geschehens war nichts zu finden, was die Beobachtungen der Augenzeugen, die Zerstörungen erklären konnte. Was immer die Katastrophe von Tunguska ausgelöst hatte, es hatte sich in Luft aufgelöst.

"Das bot Wissenschaftlern Raum für viele Spekulationen", sagt Schlüter. Im Verlauf der Jahre entstanden etwa 150 Theorien, über die Wissenschaftler oft heftig streiten. Diesen Streit werden sie auf der Konferenz zum 100. Jubiläum, zu der sich am 26. Juni etwa 150 Forscher aus aller Welt in Moskau treffen, fortsetzen. Im Zentrum der Diskussion steht die Theorie, dass ein Meteorit die kosmische Katastrophe, die Vorbild für Stephen Spielbergs Film "Deep Impact" sein könnte, ausgelöst hat. "Doch bis heute ist im Gebiet von Tunguska kein Krater gefunden worden, und es wurden keine größeren Steine außerirdischen Ursprungs aufgespürt. Gefunden wurden nur winzige Schmelztröpfchen meteoritischen Materials im Torf. Daher kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss", so Schlüter, "dass dieser kosmische Brocken aufgrund der starken Reibung und Hitze in der Luft zerborsten und sechs bis zehn Kilometer über dem Erdboden verglüht sein muss." Computergestützte Berechnungen ergaben, dass die kosmische Bombe einen Durchmesser von 50 bis 60 Metern hatte und mit einer Geschwindigkeit von 70 000 bis 90 000 Kilometern pro Stunde in die Atmosphäre eingedrungen sein muss. Wie eine Faust schlug die Druckwelle auf die Taiga. "Sie hatte vermutlich eine zerstörerische Kraft von 300 Hiroshima-Bomben", zitiert Schlüter aus Studien. Andere Forscher errechneten sogar, dass in diesem Feuerball die Kraft von 1400 Hiroshima-Bomben steckte. Auch wenn die Daten schwanken, die Mehrheit der Forscher vertraut auf dieses Szenario. Andere Erklärungsversuche wie die Explosion eines außerirdischen Raumschiffes mit Nuklearantrieb über der Taiga, der Ausbruch von Vulkanen, der Einschlag eines kleinen Schwarzen Loches oder von Antimaterie stehen nicht mehr ernsthaft zur Diskussion.

"Allerdings werden auch Wissenschaftler, die diese Thesen vertreten, in Moskau dabei sein", sagt der Impakt-Experte Prof. Kord Ernstson von der Universität Würzburg. Er wird auch nach Moskau reisen. Denn auch im Süden Deutschlands gilt es noch ein kosmisches Rätsel zu lösen. Seit acht Jahren erforscht Ernstson die Geschichte der vielen Löcher im Boden zwischen Altötting und dem Chiemsee. Er geht davon aus, dass ein Komet oder ein Meteorit einige Jahrhunderte vor Christi Geburt in der Voralpenregion niedergegangen ist. Doch Kollegen bezweifeln dies. Einige setzen eher auf die Folgen eines Gletschers. Wohl auch deshalb erhofft sich der Würzburger Forscher von dem Kongress neue Anregungen.


Sondervortrag "Meteorite - auf der Jagd nach den Himmelssteinen", Planetarium Hamburg, Hindenburgstr. 1b, 4. Juli, 19.30 Uhr, Eintritt: 7,50 Euro (erm. 4,50 Euro)