Hamburg. Das Coronavirus trifft längst nicht alle Mitglieder eines Haushalts, selbst wenn sie 14 Tage zusammen in einer Wohnung verbringen.

Sie hatte Corona und küsste noch am Tag vor dem positiven Testergebnis (da war der Abstrich schon zwei Tage her) ihre Kinder und ihren Mann. Dann verbrachten alle zwei Wochen gemeinsam in Quarantäne. Sie aßen am selben Tisch, unterhielten sich, und als es ihr schlechter ging, verzichteten sie auch auf die in der häuslichen Isolation eigentlich vorgeschriebenen getrennten Betten. Er tupfte ihr die Fieberstirn ab, während sie ihn permanent anhustete. Bei einem Antikörpertest stellte sich Wochen später heraus: Er hatte sich nicht mit Corona infiziert.

Ein anderes Beispiel: Eine vierköpfige Familie saß zehn Stunden zusammen in einem Auto, als ein Elternteil bereits noch nicht wissend infiziert war. Sie schliefen während der Isolation alle in einem Bett, lagen auf derselben Couch, vertauschten auch mal die Löffel. Keiner steckte sich an. Noch ein Fall: Ein Paar reiste gemeinsam nach Ischgl, sie fuhren dieselben Pisten, gingen in dieselben Lokale. Sie bekam Corona, er blieb selbst in der Quarantäne mit seiner Freundin gesund.

Die Experten wundern sich jeden Tag über das Virus

Wie kann das sein, dass ein so höchst ansteckendes Virus, wegen dem wir alle Abstand halten und unsere Gesellschaft auf den Kopf gestellt haben, manche Menschen verschont? Müsste man sich nicht anstecken, wenn man so viel Kontakt mit einem Infizierten hat? „Ich gebe Ihnen recht. Alle zusammen für 14 Tage unter einem Dach? Da sollte es doch zwangsläufig zur Ansteckung kommen, tut es aber nicht. Wir haben diese Be­obachtung ebenfalls gemacht und ja, wir wundern uns. Aber wir wundern uns jeden Tag bei diesem neuen Virus“, sagt Prof. Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin.

Die inzwischen zahlreichen Beispiele sprechen nach Ansicht des Virologen dafür, dass sich bestimmte Personen nicht anstecken können. Aber warum nicht? Dazu gibt es unterschiedliche Thesen. Schmidt-Chanasit tippt auf eine bereits vorhandene Immunität. Diese könnte durch eine vorherige Infektion mit anderen Corona-Erkältungsviren zustande gekommen sein. Möglich wäre auch eine kürzlich erfolgte Impfung. „Eine Impfung ruft eine Aktivierung der Immunzellen hervor, diese stoppen dann die Vermehrung der Corona-Viren frühzeitig, sodass es gar nicht erst zu einer Infektion kommt. Da gibt es viele mögliche Szenarien, von denen keines bislang wissenschaftlich erforscht wurde“, so der Hochschullehrer.

Mit Antikörpertests endlich verlässliche Zahlen ermitteln

Auch der Berliner Virologe Christian Drosten glaubt, milde oder symptomlose Corona-Verläufe könnten mit früheren Infektionen mit Erkältungs-Coronaviren zusammenhängen. Unter Berufung auf eine Studie eines Charité-Kollegen erklärte der Wissenschaftler in seinem NDR-Podcast, dass eine gewisse Hintergrundimmunität in der Bevölkerung zu bestehen scheine. Drostens Team hat an einer Studie zu sogenannten T-Helferzellen mitgewirkt. Die Forscher sahen bei Untersuchungen von Abwehrzellen in Proben aus der Zeit vor der Pandemie, dass bei 34 Prozent der Patienten reak­tive T-Zellen vorlagen, die bestimmte Teile des neuen Coronavirus sozusagen erkannten. Dabei hätten diese Patienten keinen Kontakt mit Sars-CoV-2 gehabt, so Drosten. Dass dennoch reaktive T-Zellen vorlagen, könne an durchgemachten Infektionen mit menschlichen Erkältungs-Coronaviren liegen.

Prof. Johannes Knobloch vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf glaubt nicht an eine Immunität, weil im Prinzip alle Menschen bis zu ihrem zehnten Lebensjahr statistisch gesehen schon einmal durch Erkältungen mit Coronaviren in Kontakt gekommen sind. Demnach wären wir alle immun. „Dieses Virus aber ist neu, da hat niemand einen Schutz“, sagt der Krankenhaushy­gieniker. „Was es allerdings gibt: Jedes Virus vermehrt sich in einer menschlichen Zelle. Damit es da reinkommt, braucht es ein Protein, einen Rezeptor, an den es andockt. Und diese Rezeptoren können bei Menschen unterschiedlich sein.“ Je mehr ich von diesen Rezeptoren habe, desto größer ist die statistische Wahrscheinlichkeit, das Virus reinzulassen. Habe ich eher wenige: Tür fast zu, Glück gehabt.

Es kommt auch auf das Bewusstsein an

Auch Dr. Susanne Huggett, Krankenhaushygienikerin der Asklepios Kliniken in der MEDILYS Laborgesellschaft mbH, hat in ihrem Bekannten- und Kollegenkreis die Erfahrung gemacht: Das Virus trifft nicht jeden. „Die Tatsache, dass sich manche selbst dann nicht infizieren, wenn sie so lange in Quarantäne mit einem Erkrankten verbringen, könnte ein Hinweis darauf sein, dass es Menschen gibt, die eine deutlich größere
Virusmenge benötigen, um zu erkranken“, so Huggett.

Die Ärztin hat festgestellt, dass es auch auf das Bewusstsein ankommt. Wenn ich positiv getestet wurde, verhalte ich mich anders. Ich wasche mir häufiger die Hände, knutsche meine Liebsten nicht ab, würde beim Kochen nicht mehr die Suppe mit dem Löffel abschmecken, der dann in der Suppe für alle landet. „Man handelt nicht mehr unbedarft“, sagt Huggett.

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    Doch so vorsichtig geht man eben erst vor, wenn das Testergebnis bereits vorliegt. Und viele Familien gerade mit kleinen Kindern halten selbst mit dem Wissen einer Infektion die Abstandsregeln nicht ein. Unmöglich, ein weinendes Kind beispielsweise nicht auf den Arm zu nehmen. Die Expertin für Infektionsprävention plädiert für unsere weitere Erkenntnis dafür, mithilfe der Antikörpertests eine systematische Untersuchung durchzuführen. Wenn einer in einer Familie an Corona erkrankt war, müsste man laut Huggetts Empfehlung den Rest der Familie anschließend auf Antikörper untersuchen, um verlässliche Daten zu der Frage zu ermitteln. Wie viel Prozent eines Haushaltes stecken sich durchschnittlich tatsächlich an?

    Es gibt dazu bereits erste Studien. Für die chinesische Stadt Shenzhen wurde ermittelt, dass sich elf von 100 Menschen anstecken, die mit einem Infizierten zusammenlebten. Man spricht von der sogenannten sekundären Befallsrate, auf Englisch „secondary attack rate“ (SAR abgekürzt). In Guangzhou wurde eine SAR von rund 19 Prozent festgestellt. In der Gemeinde Gangelt in Nordrhein-Westfalen ist in einer Studie bei 15 Prozent der untersuchten Bürger eine Infektion nachgewiesen worden.

    Risiko einer Ansteckung ist offenbar nicht für alle Menschen gleich

    Alle Untersuchungen sind zwar aus verschiedenen Gründen mit Vorsicht zu genießen, doch es scheint zumindest so, als wenn a) das Risiko einer Ansteckung nicht für alle Menschen gleich ist und b) manche Erkrankte andere einfach nicht anstecken. Professor Knobloch bringt es schön auf den Punkt: „Nicht jeder, der einen Lottoschein abgibt, gewinnt auch.“

    Die Gründe dafür sind zahlreich, eine Rolle spielt etwa die Virusmenge, die jemand abgibt, wenn er hustet oder spricht. „Das ist ein Faktor, der locker in einen tausendfachen Unterschied geht“, so Knobloch. Wenn das Virus schnell in die Lunge eines Covid-19-Trägers wandert, dann ist derjenige ein weniger starker Überträger als jemand, bei dem sich das Virus in den oberen Atemwegen vermehrt, erklärt der Mediziner. Außerdem gibt es Menschen, die nur sehr kurz ansteckend sind, nur 48 Stunden lang. Und dann gibt es Leute, die selbst noch nach drei Wochen positiv getestet werden.

    Das Infektionsrisiko könnte außerdem davon abhängen, mit wie vielen Menschen auf wie vielen Quadratmetern man zusammenwohnt. Die Heinsberg-Studie kam zu dem Ergebnis, je mehr Menschen unter einem Dach leben, desto geringer ist für den Einzelnen die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung.

    Spielt auch die Größe der Wohnung eine Rolle?

    Ob es an der Größe der Wohnung liegt? Professor Knobloch vermutet einen anderen Grund: „Je größer der Haushalt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Einzelpersonen ein individuelles Verhalten hinlegen. Ich habe beispielsweise drei Kinder, meinen 16-Jährigen Sohn sehe ich nur zweimal am Tag, wenn er den Kühlschrank durchwühlt, und dann verschwindet der wieder in seinem Zimmer. Er würde sich wahrscheinlich nicht anstecken, wäre einer in unserer Familie infiziert.“ Wer hingegen zu zweit wohnt, kann sich nur mit der einen Person unterhalten und wird sich weniger zurückziehen.

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      Warum auch immer sich manche nicht anstecken, die Feststellung allein hätte eine große Konsequenz. Bislang sind viele Epidemiologen davon ausgegangen, dass sich 70 Prozent der Bevölkerung infizieren müssen, damit die Pandemie gestoppt werden kann. „Wenn jetzt rauskäme, dass ein gewisser Teil der Bevölkerung resistent ist, und sich beispielsweise nur 30 Prozent infizieren müssten, dann wäre das eine grundlegend andere Situation“, sagt Jonas-Schmidt-Chanasit: „Das spielt eine entscheidende Rolle für die Fragen: In welchem Maße lassen wir Infektionen zu? Wie viele Lockerungen dürfen wir uns erlauben?“

      Der beste Schutz? Alleine in den Keller gehen

      Der Professor glaubt, das Rätsel könnte schon relativ bald gelöst werden: „Es kann sehr schnell gehen, weil wir jeden Tag neue Studien in vielen Ländern der Welt haben und eine Flut von Publikationen. Da könnten sich bald Hinweise ergeben.“

      Bis dahin gilt weiterhin Vorsicht. Eben weil die Grundimmunität in Hamburg noch so gering ist. Johannes Knobloch sagt: „Wir haben geschätzt noch 90 Prozent ohne Schutz. Wenn es zu einer zweiten Welle kommt, dann sind wir da nahezu genauso wenig geschützt.“ Die beste Möglichkeit, gesund zu bleiben, wäre alleine in den Keller zu gehen.

      Ein Scherz natürlich, doch manche Mediziner sind bereits genervt von der Diskussion um die Atemmasken, und wie sie angeblich gewaschen werden müssten. „In meiner Maske hängen ja nur meine Bakterien aus der Mundflora. Durch die Masken besteht aber durchaus die Gefahr, dass man sich die Hände schlimmstenfalls weniger wäscht,“ sagt Johannes Knobloch.

      Es herrsche die leider falsche Annahme, sich durch die Maske zu schützen, wobei es ja um das Gegenteil geht, nämlich andere nicht anzustecken im Falle einer unerkannten Erkrankung: „Bislang hat anscheinend noch keiner verstanden, was es mit den Masken auf sich hat.“

      Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

      • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
      • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
      • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
      • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
      • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden