Bozen. Wenige Mordopfer sind so gut erforscht wie Ötzi. Doch wie viel kann - und soll - noch an der Kult-Mumie herumgedoktert werden?

Damit er sich wohlfühlt und nicht zerfällt, wird Ötzi regelmäßig mit sterilem Wassernebel besprüht. Bei minus sechs Grad umhüllt ihn eine dünne, glänzende Eisschicht. Eine Waage kontrolliert genau, ob er an Gewicht verliert. Jeder Temperaturwechsel könnte Ötzi „Lebensjahre“ kosten - ihn, der schon mehr als 5000 Jahre auf dem Buckel hat. Der Zustand der legendären Eismumie beschäftigt nicht nur ein ganzes Museum, sondern immer noch Scharen von Wissenschaftlern. Und das seit nunmehr fast 25 Jahren.

Wie auf einem Operationstisch liegt der Gletschermann in seiner Igluzelle im Archäologischen Museum in Bozen. In der Eisgruft werden mit einer ausgeklügelten Technik jene Umstände simuliert, unter denen Ötzi am 19. September 1991 von einem Wandererpaar aus Nürnberg in den Alpen im italienisch-österreichischen Grenzgebiet entdeckt wurde. In Gletschereis verpackt hatte sich der Mann aus der Kupferzeit über Jahrtausende erhalten. Seit seiner „Wiedergeburt“ trägt er den Titel „besterhaltene Feuchtmumie der Welt“.

Durch ein kleines Guckloch können Museumsbesucher einen Blick auf die Leiche werfen, die durch die Eisschicht wie eine Speckschwarte glänzt. Eine lange Schlange bildet sich vor der Eiskammer, Kinder spähen auf Zehenspitzen durch das kleine Loch. „Wir wollten dem Ötzi auch eine Intimsphäre lassen und dem Besucher einen privaten Moment, deshalb haben wir keine große Fensterfront eingebaut“, sagt Museumsleiterin Angelika Fleckinger.

Ein Wissenschaftler untersucht die Eismumie Ötzi
Ein Wissenschaftler untersucht die Eismumie Ötzi © dpa | Marco Samadelli

Ötzi ist ein Touristenmagnet. Pro Jahr kommen eine Viertel Million Besucher in das Museum, das eigens für die Mumie umgestaltet wurde. „Der Ötzi ist unser Zugpferd“, so Fleckinger. Er habe den Tourismus in ganz Südtirol angekurbelt.

In dem Museum ist nicht nur Ötzi selbst ausgestellt, sondern auch alles, was bei ihm gefunden wurde: seine Bärenfellmütze, sein Grasumhang, seine Schuhe mit Heufüllung, die Leggins, ein Beil und andere Waffen sowie Ötzis „Reiseapotheke“ inklusive eines Pilzes mit antibiotischer Wirkung. Zwei Menschenflöhe zeugen davon, dass der Mann solche Plagegeister mit sich herumtrug. Eine lebensgroße Rekonstruktion zeigt, wie Ötzi zu Lebzeiten ausgesehen haben könnte.

Archäologischer Sensationsfund

Auch über die abenteuerlichen Umstände seiner Entdeckung in 3210 Metern Höhe wird informiert. So zeigen Fotos und ein Film, wie Bergretter die Mumie mit Pickel und Skistock aus dem Eis schlagen. Niemand wusste zu dem Zeitpunkt, um was für einen archäologischen Sensationsfund es sich handelte.

„Hätte man es gewusst, wäre man natürlich vorsichtiger vorgegangen“, sagt Fleckinger. So aber trug Ötzi zu Beginn seines „zweiten Lebens“ Blessuren an Arm, Rippen und Schädel davon. Nach den ersten Untersuchungen schwante Experten allerdings rasch, dass es sich nicht um eine normale Bergsteigerleiche handelte, sondern ein weitaus älteres Geschöpf. Weil Ötzi da schon gefährlich aufgetaut war, mussten sofort konservatorische Schritte eingeleitet werden.

Ötzi lebte zwischen 3350 und 3100 vor Christus

Rasch begann ein gewaltiger Rummel um den Sensationsfund. Medien aus aller Welt interessierten sich für den Mann aus dem Eis, der zwischen 3350 und 3100 vor Christus gelebt hatte. Auch der Politik wurde die Bedeutung bewusst: Italien und Österreich zankten eine Zeit lang darum, wem Ötzi gehöre. Italien gewann, nachdem eine neue Vermessung des Fundortes ergab, dass die Eisleiche 92,56 Meter weit auf italienischer Seite gelegen hatte.

„Wir bekommen immer wieder Anfragen von Museen aus aller Welt, ob sie den Ötzi ausleihen dürfen“, sagt Fleckinger. Auch aus der Wüstenstadt Dubai sei schon eine gekommen. „Aber dazu ist er viel zu sensibel.“ Kein Wunder, dass sich alle um den Gletschermann reißen: Schließlich lässt er sich wunderbar vermarkten. Es gibt Ötzi-Gummibärchen, Ötzi-Pizza, Ötzi-Eis, Ötzi-Wein, Ötzi-Schokolade und DJ Ötzi. Hollywoodstar Brad Pitt hat sich ein Abbild der Leiche auf den Arm tätowieren lassen. „Wir haben versucht, von ihm ein Statement dazu zu bekommen, es ist uns aber leider bisher nicht gelungen“, so Fleckinger.

Frau wollte Kind von Ötzi austragen

Auch kuriose Spekulationen und Verschwörungstheorien ranken sich um Ötzi. Dem Extrembergsteiger Reinhold Messner, der kurz nach dem Fund zufällig am „Tatort“ war, wurde unterstellt, eine Mumie aus Ägypten dort deponiert zu haben. Eine Frau bot sich an, ein Kind von Ötzi auszutragen, falls Sperma des Eismannes gefunden werde. Manche Esoteriker wiederum sehen in ihm einen Boten, der etwas zum Klimawandel sagen wolle. Andere gehen von einer Wiedergeburt Ötzis aus oder sehen sich als seine direkten Nachfahren.

Auch an echten Forschungsergebnissen mangelt es nicht. Eine in der Schulter entdeckte Pfeilspitze aus Feuerstein machte klar, dass Ötzi getötet wurde. Der Grund für die Attacke allerdings wird wohl nie endgültig aufgeklärt, auch wenn sich schon mehrere Profiler mit diesem Gletscherkrimi beschäftigt haben.

Selten, aber immer wieder wird die Leiche aus ihrer Igluzelle geholt, damit Forscher neue Details über Ötzi und das Leben vor mehr als 5000 Jahren herausfinden können. Man weiß bereits, dass der Mann Karies hatte, unter Stress und Borreliose litt. Man kennt seine Augenfarbe, seine DNA, seine Blutgruppe und man weiß, dass er laktoseintolerant und tätowiert war. Ist die Mumie nicht irgendwann „ausgeforscht“?

2010 wurde Ötzi das letzte Mal aufgetaut

„Die Methodik verbessert sich kontinuierlich, weshalb immer weiter geforscht wird“, sagt Mumienexperte Albert Zink. Er arbeitet am Institut für Mumien und den „Iceman“ an der Europäischen Akademie in Bozen (Eurac) und ist so etwas wie der Ötzi-Forscher Nummer Eins. Pro Jahr gehen Dutzende Forschungsanträge bei der Eurac ein, wo alle Anfragen koordiniert werden. Das letzte Mal sei Ötzi 2010 komplett aufgetaut worden. „Das ist schon immer ein Moment, wo man denkt, hoffentlich passiert nichts.“ Es sei immer ein gewisses Risiko, Proben zu entnehmen, „das muss man immer abwägen“.

Die bislang letzte Probenentnahme war eine vom Mageninhalt Ötzis. Die Ergebnisse sollen in Kürze veröffentlicht werden. Aus dem Darminhalt war bereits geschlossen worden, dass der Mann kurz vor seinem Tod unter anderem Fleisch von einem Ziegenbock gegessen hatte. Die Untersuchung von Fettklumpen aus dem Magen soll nun zeigen, ob vielleicht auch der älteste bekannte Käse der Menschheit auf seinem Speiseplan stand.

Forscher Zink beschäftigt sich auch mit der weiteren Konservierung Ötzis. „Die derzeitige Methode ist ein Kompromiss, damit ihn Besucher sehen können. Das ist keine Lösung für die Ewigkeit.“ Besser wäre es, wenn er in einem kleineren Raum wäre und ständig tiefgefroren - zum Beispiel in einem Eisblock, für Besucher unsichtbar. „Aber das ist schwer durchzusetzen, weil der Ötzi der Hauptpublikumsmagnet in dem Museum ist“, sagt Zink.

Diese Gratwanderung zwischen touristischen Ansprüchen und optimaler Erhaltung muss nun auch der neue „Ötzi-Hüter“ schaffen: Im kommenden Jahr erhält der Mann aus dem Eis einen neuen Konservationsbeauftragten. Der Münchner Rechtsmediziner Oliver Peschel arbeitet sich derzeit in die Problematik ein, wie eine der berühmtesten Mumien der Welt vor dem Zerfall bewahrt werden kann. „Es wäre ewig schade, wenn nichts von ihm übrig bleibt“, sagt er.