Hamburg. Weiträumiger Auslauf auf weichem Untergrund wirkt sich positiv aus. Forscher entwickeln Konzepte für nachhaltige Milchviehhaltung.

Wenn Milchkühe nach der Winterpause wieder auf die Weide dürfen, werden sie quicklebendig: Sie galoppieren über den weichen Boden, bocken und springen wie Kälbchen, rangeln miteinander – Lebensfreude pur. Viele Verbraucher wünschen sich, dass die Kühe, die ihre Frühstücksmilch liefern, auf der Weide leben. Manche Molkereien bieten Weidemilch an, andere vermarkten Bio- oder Heumilch. Und Wissenschaftler erforschen die Vorzüge der Weidehaltung.

Regionen mit viel Grünland und ausreichend Niederschlag wie die Nordseeküsten Schleswig-Holsteins und Niedersachsen eignen sich ideal für die Weidewirtschaft. „Auf dem Dauergrünland an der Küste werden traditionell Rinder gehalten. Nach einer Erhebung aus dem Jahr 2010 sind Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen die Bundesländer mit den größten Anteilen von Kühen, die auf der Weide stehen“, sagt Dr. Solveig March, Spezialistin für Tiergesundheit im Thünen-Institut für Ökologischen Landbau in Trenthorst bei Lübeck.

Die Weidehaltung habe, so March, großes Potenzial, dem Tierwohl zu dienen: „Auf der Weide können die Milchkühe ihr artgerechtes Verhalten ausleben. Der Untergrund ist weicher als der Stallboden, dort können sie besser laufen und liegen. Gleichzeitig bietet er den Tieren mehr Halt. Sie können sich zum Beispiel umdrehen und am Schwanz lecken, eine Bewegung, die auf rutschigen Stallböden schwierig ist.“ Allerdings sei die Weide nicht per se die beste Lösung, betont March: „Wenn die Triebwege schlecht, zum Beispiel schlammig oder steinig sind, das Grünland nicht genug Futter liefert oder bei Hitze keinen Schatten bietet, dann können gut geführte moderne Laufställe überlegen sein. Es kommt immer auch auf das Management an.“

Der Trend zu immer größeren Betrieben mit einigen Hundert Milchkühen habe dazu geführt, dass die Tiere zunehmend nur in Ställen gehalten werden, sagt Prof. Johannes Isselstein, Grünlandexperte an der Universität Göttingen. „Es gibt keine verlässlichen Daten darüber, aber geschätzt jeder dritte niedersächsische Betrieb hält seine Milchkühe ausschließlich im Stall. Da dies eher größere Betriebe sind, liegt der Anteil der betroffenen Kühe noch höher.“

Isselstein ist Sprecher des niedersächsischen Verbundprojekts „Systemanalyse Milch“. In Kooperation mit mehr als 60 Betrieben vergleichen Wissenschaftler der Uni Göttingen, des Grünlandzentrums Niedersachsen/Bre­men und der Landwirtschaftskammer Niedersachsen Stall- und Weidehaltungen, um daraus Vorschläge zu machen, wie Milchviehhaltung in Niedersachsen weiterentwickelt werden soll. Auch Isselstein betont, dass die Weide das größte Potenzial habe, den Kühen gerecht zu werden.

Doch wo fängt Weidehaltung an? Reicht es, wenn die Tiere an einigen Wochen im Jahr täglich ein paar Stunden auf der Weide verbringen? So sieht es der niederländische Weidemilch-Standard vor. Er lässt die Kühe mindestens an 120 Tagen im Jahr jeweils mindestens sechs Stunden auf dem Grünen grasen. Solveig March will sich nicht auf Zahlen festlegen, da andere Faktoren wie Witterung und der damit verbundene Zustand des Grünlands dar­über mitentscheiden, ob ein Weidegang sinnvoll ist. Johannes Isselstein nennt den Standard „nicht so schlecht“, hält aber ein weiteres Kriterium für ebenso bedeutend: den Grasanteil im Futter. Eine moderne deutsche Hochleistungskuh kommt ohne Zufütterung von eiweißreichem Mais und Kraftfutter nicht mehr aus, doch sie sollte, so Isselstein, dennoch möglichst viel Gras fressen – direkt auf der Wiese oder im Stall als Heu oder Silage.

Isselstein: „Ein Ziel der Weidehaltung müsste lauten, dass sich die Tiere weitgehend selbst ernähren können. Kühe sind grandiose Futterverwerter. Als Wiederkäuer kann ihr Verdauungssystem Zellulose aufschließen und damit Biomasse nutzen, die andere Tiere nicht verwerten können. Dieser Vorteil geht mehr und mehr verloren. Heute fressen Kühe viel Mais und Kraftfutter. Sie werden dadurch zu Nahrungskonkurrenten anderer Nutztiere – und des Menschen. Würde sich der Anteil der Weide am Futter erhöhen, hätte dies positive Folgen für die Stoffkreisläufe und würde sich durch die Sojaimporte sogar auf globale Handelsbeziehungen auswirken.“

Mehr Gras bedeutet jedoch tendenziell weniger Milch. In Irland, wo Kühe ganzjährig auf den Weiden stehen und zu rund 80 Prozent Gras fressen, gibt eine Kuh 4000, vielleicht 5000 Liter im Jahr. In Deutschland ist die Ausbeute doppelt so hoch. Das erkaufen sich die Landwirte vor allem mit teurem Kraftfutter. Isselstein: „Die Iren sagen: ,Uns interessiert nicht die Leistung der einzelnen Kuh, wir verzichten auf die zweiten 5000 Liter.’ Mit diesem Konzept haben die Betriebe deutlich geringere Kosten und dadurch mehr Überschüsse als deutsche Milchbauern.“

In Deutschland könnten, so Isselstein, Milchbetriebe etwa die Hälfte des Futterbedarfs durch Weidegang decken – wenn die Voraussetzungen optimal sind. Neben der Witterung sei auch die Hofstruktur entscheidend: Oftmals ist das Grünland auf mehrere Parzellen in der Umgebung verstreut, die noch dazu fernab vom Hof liegen. Darauf lässt sich ohne weiteres Gras, Heu oder Silage gewinnen, das zum Stall gekarrt wird. Aber es ist mühselig bis unmöglich, die Kühe von einer Weide zur nächsten oder aber zum Melken dauernd im wahrsten Sinne des Wortes durchs Dorf zu treiben.

Der Grasanteil im Futter entscheidet auch darüber, ob die Milchtrinker von der Weidehaltung Vorteile haben. Eine grashaltige Diät der Kuh lässt in ihrer Milch den Gehalt der wertvollen Omega-3-Fettsäuren steigen – nach Untersuchungen der Zeitschrift „Öko-Test“ gilt das auch für Heumilch, also für Milch von Kühen, die im Stall mit (getrocknetem) Gras gefüttert wurden. In einem aktuellen Test schnitten Heumilchprodukte sogar besser ab als Weidemilch, vermutlich, weil die Kühe, die die Weidemilch liefern, über die Wintermonate im Stall stehen. Auch in Biomilch sind höhere Anteile der gesunden Fettsäuren zu erwarten. Biokühe müssen Zugang ins Freie haben, möglichst auf einer Weide. Ist dies in der Praxis nicht machbar, darf es auch eine befestigte Auslauffläche sein.

Weidehaltung hilft den Kühen, schont die Umwelt und liefert hochwertigere Milch. Aber wie können die Verbraucher die Freilandmilch erkennen? Der Begriff Weidemilch ist in Deutschland nicht geschützt. Isselstein könnte sich ein spezielles Weidemilch-Kennzeichen vorstellen, als „neues Marktsegment neben Bio“.

Solveig March wünscht sich nicht unbedingt ein neues Label, wohl aber mehr Transparenz: „Verpackungen, die eine Kuh auf einer Weide zeigen, sollten tatsächlich Weidemilch enthalten. Die Verbraucher haben sich weit von der landwirtschaftliche Produktion entfernt. Sie müssen richtig informiert werden, damit das Bild, das sie sich von der Milchwirtschaft machen, der Realität entspricht.“