Boston/Berlin. Genetisch veränderte oder neu codierte Organismen sollen etwa Krankheiten heilen. Das bietet Chancen – und birgt Risiken.

Frankensteins Monster, die Dinosaurier aus „Jurassic Park“ oder der Golem: Die Schaffung von Leben fasziniert Menschen seit ­jeher – bis vor Kurzem meist nur als Fiktion. Doch inzwischen streben Forscher gezielt die Herstellung neuartiger Organismen an und wetteifern darum, wer das erste synthetische Lebewesen erschafft. Bei vielen Menschen weckt das Thema religiöse Assoziationen – und tief verwurzelte Ängste. Darf der Mensch Gott spielen und nach seinen eigenen Vorstellungen Leben erschaffen? Und wie kann man sicherstellen, dass solche Experimente nicht aus dem Ruder laufen – wie so oft in Mythen, Literatur und Filmen?

Noch beschränkt sich die synthetische Biologie weitgehend auf Mikroorganismen. Zu den führenden Forschern auf dem Gebiet zählt Craig Venter, der als Erster das menschliche Genom sequenzierte. Ein Team um den US-Biochemiker stellte 2008 rein synthetisch das Erbgut des Bakteriums Mycoplasma genitalium her, bestehend aus knapp 583.000 Basenpaaren.

Zwei Jahre später gelang es Forschern am J. Craig Venter Institute (JCVI), das etwa 1,1 Millionen Basenpaare umfassende Genom des Bakteriums Mycoplasma mycoides zu produzieren und in die leere Zellhülle einer anderen Art zu schleusen. Das entstandene lebensfähige Bakterium tauften sie auf den Namen „Mycoplasma mycoides JCVI-syn1.0. Zusätzlich zum Ursprungsgenom enthielt es vier Wasserzeichen-Sequenzen. Dechiffriert ergab eine davon ein Zitat des Physikers Richard Feynman: „Was ich nicht erschaffen kann, verstehe ich nicht“ – das Motto der synthetischen Biologie.

Ob das Bakterium wirklich ein synthetisches Lebewesen ist, darüber sind die Meinungen geteilt. Auf der einen Seite steht der selbstbewusste Venter: „Mit unserer synthetischen Zelle bauten wir auf einer Evolution von 3,5 Milliarden Jahren auf, aber wir versuchten nicht, sie nachzuvollziehen“, schreibt er im Buch „Leben aus dem Labor“. „Da wir das Genom abgewandelt hatten, gab es in der Natur keinen unmittelbaren Vorfahren der von uns geschaffenen Zelle. Mit unserem synthetischen Code hatten wir dem Strom des Lebendigen einen neuen Nebenfluss hinzugefügt.“ Andere Forscher wenden ein, Venters Bakterium basiere letztlich auf natürlichen Molekülen. „Die Herstellung war zwar synthetisch“, sagt Prof. Torsten Waldminghaus vom Zentrum für Synthetische Mikrobiologie der Universität Marburg. „Doch letztlich ist das Bakterium die Kopie einer natürlichen Vorlage.“

Im Vergleich zu Venter ging Molekularbiologe George Church von der Harvard Medical School in Boston noch einen großen Schritt weiter: Vor zwei Jahren schuf er mit seinem damaligen Mitarbeiter Farren Isaacs den ersten genetisch neu codierten Organismus (GRO; Genetically Recoded Organism). Was heißt das? Die DNA, die die Informationen zum Bau der 20 klassischen Aminosäuren – den Grundbausteinen der Proteine – trägt, ist bei allen Organismen gleich aufgebaut und wird gleich abgelesen. Egal ob bei Pflanzen, Bakterien oder Tieren. Bei traditionellen genetisch veränderten Organismen (GMO; Genetically Modified Organisms) – etwa Maispflanzen, die ein Insektengift produzieren – schleusen Forscher lediglich eines oder mehrere Gene neu ein. Church und Isaacs veränderten dagegen bei Kolibakterien die Art, wie die DNA abgelesen wird. Damit sorgten sie dafür, dass die Organismen zum Bau lebenswichtiger Proteine auf eine künstliche Aminosäure angewiesen waren.

Enormes Aufsehen erregte vor einem Jahr ein Team um Floyd Romesberg vom Scripps Research Institute in La Jolla (US-Staat Kalifornien) mit dem Artikel „Ein halbsynthetischer Organismus mit einem erweiterten genetischen Alphabet“ im Fachblatt „Nature“: Die Forscher verließen die vier traditionellen DNA-Bausteine Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin, (A, T, G und C), die je nach ihrer Reihenfolge Zellen den Bauplan für Proteine liefern. Ebenfalls bei Kolibakterien fügten die Wissenschaftler dem genetischen Alphabet eine Klasse unnatürlicher Basenpaare hinzu, die nicht nur toleriert, sondern auch weitervererbt wurden. Eine konkrete Funktion erfüllte das Basenpaar allerdings nicht. Die Studie diente lediglich als „proof of principle“, als Nachweis der Machbarkeit. Dass man das genetische Alphabet verlassen kann, war noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar. Für Waldminghaus stellt dies den bislang radikalsten Schritt in Richtung Xenobiologie dar, der Schaffung fremdartiger Lebensformen. Für die Zukunft erhoffen sich Forscher von der Herstellung solcher Organismen die Lösung vieler aktueller Probleme: Sie könnten demnach eines Tages etwa neuartige Biomaterialien produzieren, Medikamente herstellen, Giftstoffe in der Umwelt abbauen oder im Körper gezielt Tumore suchen.

„Vor uns steht eine Technologie mit ungeahnten Möglichkeiten“, sagt der Chemiker Prof. Nediljko Budisa von der Technischen Universität Berlin. „Wir wollen chemische Funktionen, die in der Natur nicht vorkommen.“ Über Milliarden Jahre habe die natürliche Umgebung Organismen selektiert. Diese Selektion könne der Mensch nun selbst steuern.

Wie kann man verhindern, dass sich die Organismen unkontrolliert ausbreiten?

Doch einstweilen grübeln Forscher auch über grundlegende Probleme. Wie kann man sicherstellen, dass sich solche Organismen außerhalb des Labors nicht unkontrolliert ausbreiten? Bisher vertrauten Forscher etwa darauf, dass sie in der Natur bestimmte Nährstoffe nicht finden würden. Ein anderer Ansatz setzt auf Notschalter. Beispielsweise würden Organismen unter bestimmten Umständen – etwa bei niedrigen Temperaturen außerhalb eines Bioreaktors – einen bestimmten Giftstoff bilden, der sie umbringt.

Church genügt das nicht, ebensowenig wie Schmidt. „Das ist zwar eine Riesenleistung und ein Schritt in die richtige Richtung, aber es muss noch viel mehr passieren. Es gibt noch keinen Maßstab, mit dem man die Sicherheit eines Organismus bewerten könnte.“ Überhaupt, so betont auch Budisa, erfordere der Einsatz solcher Lebewesen einen gesellschaftlichen Konsens. An einer transparenten Diskussion zu Chancen und Gefahren müssten sich nicht nur Biologen beteiligen, sondern etwa auch Ethiker oder Theologen. Klar ist: „Das Risiko wird niemals null sein“, sagt Schmidt. „Aber wie gering muss es sein, damit wir es akzeptieren?“ Das gelte es zu klären.

Trotz aller Fortschritte der synthetischen Biologie: Von der tatsächlichen Schaffung von Leben sind Forscher letztlich weit entfernt. „Die faszinierendste Frage ist: ,Was ist Leben‘“, sagt Waldminghaus. „Wir kennen inzwischen alle chemischen Bestandteile, aber wir können Leben nicht entstehen lassen. Es ist schön, dass es dieses Rätsel noch gibt.“