Um die Erderwärmung zu stoppen, müssten 90 Prozent der Öl-, Kohle- und Gasreserven im Boden bleiben, sagen Experten

Berlin. Falls der Mensch alle derzeit bekannten Lagerstätten von Kohle, Öl und Gas nutzen sollte, entstünden nach derzeitigen Schätzungen etwa 11.000 Milliarden Tonnen (GT) Kohlendioxid. Wenn die Erderwärmung in noch erträglichen Grenzen von zwei Grad gehalten werden soll, dürfen nach Auskunft des Weltklimarates IPCC jedoch nur noch rund 1100 GT Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangen. Etwa 90 Prozent der derzeit bekannten fossilen Brennstoffe – und alle, die noch entdeckt werden – müssten demnach in der Erde bleiben. Sollte die Staatengemeinschaft das durchzusetzen versuchen?

Das wäre eine historisch beispiellose Entwertung von fossilen Ressourcen, und damit faktisch eine Enteignung von deren Besitzern, meint der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgeforschung (PIK), Professor Hans Joachim Schellnhuber, unter anderem mit Blick auf die Ölscheichs und auf Länder mit Kohleflözen. „Das wäre so, wie wenn sie eine Goldmine haben, aber nur noch ein Zehntel davon ausgraben dürfen.“

Geht es weiter wie bisher, könnte die Durchschnittstemperatur stark steigen

Tatsächlich haben einige Ölstaaten auf Klimakonferenzen Entschädigungszahlungen gefordert, falls sie ihre Ressourcen aus Klimaschutzgründen im Boden lassen sollen. Ärmere Staaten möchten Geld, damit sie es sich leisten können, ihren Urwald zu bewahren. Wenn der Mensch aber Ölfelder, Urwälder und andere Ressourcen weiter wie bisher ausbeutet, wird die Durchschnittstemperatur auf der Erdoberfläche nach IPCC-Schätzungen bis 2100 um 3,7 bis 4,8 Grad steigen – im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung. „Die Differenz entspricht ungefähr der zwischen einer Eiszeit und einer Warmzeit. Nur, dass sich das damals über Jahrtausende vollzog“, so Schellnhuber. „Viele Ökosysteme würden das nicht verkraften können.“

In einem Teil des Westantarktischen Eisschildes habe der Schmelzvorgang wahrscheinlich jetzt schon den sogenannten Kipppunkt überschritten. „Der ist wohl nicht mehr aufzuhalten“, sagt der Klimaforscher. Das entspreche in etwa 1,5 Meter Meeresspiegelanstieg, auch wenn dieser erst innerhalb der kommenden Jahrtausende erreicht werde. „Das Klimasystem reagiert sehr, sehr langsam – aber einmal in Gang gekommen, sind das dann zum Teil unumkehrbare Veränderungen. Das Hinterhältige ist, dass die Entscheidungen über das Klima der Zukunft eben heute getroffen werden“, sagte Schellnhuber. Entscheidend seien die nächsten 10 bis 20 Jahre.

Der größte Teil von Kohle, Öl und Gas aus bekannten Lagerstätten kann noch nicht wirtschaftlich lohnend gefördert werden. Wie schnell sich das ändern kann, zeigt sich gerade beim Fracking: Lange hat es sich nicht gelohnt, in größerem Umfang Flüssigkeiten in tiefere Erdschichten zu pressen und so Öl oder Gas aus dem Gestein zu gewinnen. Mit einer besseren Technik und steigendem Ölpreis wurde das Fracking innerhalb weniger Jahre lukrativ und insbesondere in den USA ausgebaut.

Seit einigen Monaten wiederum sinkt der Ölpreis – auch aufgrund des Frackings, das zu einem hohen Angebot an fossilen Energieträgern geführt hat. Die Folge: Erste Investoren, die neue US-Bohrungen für das immer noch vergleichsweise teure Fracking finanzieren wollten, haben ihre Pläne fallen lassen.

Christophe McGlade und Paul Ekins vom University College London gehen wie viele Klimaforscher davon aus, dass aus den heute bekannten fossilen Lagerstätten theoretisch 11.000 GT Kohlendioxid entstehen kann. Derzeit technisch und lukrativ förderbar seien nur Reserven im Gegenwert von 2900 GT Kohlendioxid. Sie schlagen im Journal „Nature“ vor, was davon in der Erde bleiben soll, um die Erderwärmung mit einer Chance von 50 Prozent auf 2 Grad zu begrenzen. Zudem haben die Forscher berechnet, wo welche Ressourcen besonders günstig ausgebeutet werden können, und präsentieren damit so etwas wie eine globale Optimallösung. Demnach müssten weltweit 35 Prozent der gegenwärtig förderbaren Ölreserven ungenutzt bleiben. Bei Gas sollten es gut 50 Prozent und bei Kohle rund 90 Prozent sein.

In Europa sollten 89 Prozent der derzeit lukrativ förderbaren Kohle im Boden bleiben, in den USA 95 Prozent, in China und Indien 77 Prozent. Im Nahen Osten müssten 38 Prozent des Öls ungenutzt bleiben, in Kanada 75 Prozent. Erdgas dürfte etwa in den USA noch im großen Umfang gefördert werden: Dort sollten nur sechs Prozent der Gaslagerstätten im Boden bleiben. Die fossilen Vorräte in der Arktis sollten dagegen gar nicht angetastet werden. Selbst wenn Kohlendioxid einmal per sogenannter CCS-Technik im Boden gespeichert werden sollte, ändert sich das Ergebnis nur geringfügig. In der Industrie rechne kaum jemand damit, Ressourcen im Boden lassen zu müssen, sagt Schellnhuber, „meine Erfahrung in Davos war wieder: Diese Notwendigkeit ist kaum jemandem bekannt. Nicht mal den Leuten, die eigentlich im Ressourcengeschäft unterwegs sind.“ Viele Unternehmer nähmen die Diskussionen ums Klima nicht ernst. „Sie denken, das ist halt so eine Debatte, die von verrückten Umweltschützern und weltfremden Wissenschaftlern geführt wird.“ Dabei könnte der Energiemarkt bald auf den Kopf gestellt werden.

Der Begriff Enteignung sei natürlich das größte Schreckgespenst von allen Möglichkeiten, das Klima zu schützen, meint Schellnhuber. Er rechne nicht mit einer großräumigen Enteignung per Dekret, sondern mit einer „industriellen Transformation“. Deren Zutaten seien vor allem technischer Fortschritt und öffentlicher Druck, aber wahrscheinlich auch Steuern oder zum Beispiel Einspeisetarife für Ökostrom. In der Industriegeschichte seien solche De-facto-Enteignungen durch Innovation ständig passiert. So habe die Pastel-Industrie im 14. und 15. Jahrhundert einigen Menschen zu großem Reichtum verholfen. Das „blaue Gold Frankreichs“, gewonnen aus Färberwaid-Pflanzen, wurde im 16. Jahrhundert durch den Import von billigerem Indigo ersetzt. „Wenn die Erneuerbaren billig, stabil und leicht erreichbar seien, „gibt es keinen Grund mehr, Kohle aus der Erde zu kratzen“.

„Einige Entwicklungsländer fragen sich natürlich, warum sie ihre vorhandenen Reserven ungenutzt lassen sollten, wenn dies doch die Armut bekämpfe“, sagt Michael Jakob vom Mercator-Klimaforschungsinstitut, „eine erfolgreiche Klimapolitik ist letztlich eine Frage der Entschädigung“. Die UN-Klimaverhandlungen allerdings bewegen sich seit der Einigung auf das Klimaschutz-Protokoll von Kyoto 1997 im Schneckentempo. In diesem Vertragswerk wurden zudem nur Klimaziele für Industrieländer vereinbart. China und Indien bekamen keine Ziele zur Treibhausgasreduktion.

Die Investitionen für Solar- und Windenergie nehmen zu

Die Chefin des UN-Klimasekretariats, Christiana Figueres, blickt optimistisch in die Zukunft und sieht außerhalb der Klimaverhandlungen viel Bewegung. Solar- und Windenergie seien global gesehen nicht mehr marginal. „Die Investitionen dafür steigen. 2014 haben sie 312 Milliarden Dollar erreicht, 16 Prozent mehr als 2013“, schreibt sie nach dem Wirtschaftsgipfel in Davos in ihrem Blog. Energie aus diesen Quellen werde immer günstiger, Solarstrom habe gerade wieder ein neues Minimum erreicht.

Die Energiebehörde Dubais habe eine Vereinbarung mit dem Energiekonzern ACWA in Saudi Arabien getroffen, wonach dieser 100 Megawatt Solarstrom zu einem Preis von 5,98 US-Cent pro Kilowattstunde an das Öl-Emirat liefern soll.

Weitere Lichtblicke für den Klimaschutz sind, dass etwa US-Fonds, die Weltbank und die deutsche Staatsbank KfW zunehmend alternative Energien unterstützen. So will sich etwa der 860 Millionen Dollar schwere, gemeinnützige Investmentfonds der Öl-Dynastie Rockefeller schrittweise aus Geschäften mit Öl und Kohle verabschieden und mehr Geld in erneuerbare Energien stecken.