Hamburger Forscherin hält die allgemeinen Untersuchungen von gesunden 35- bis 40-Jährigen für überflüssig

Hamburg. „Sicherheit ab 35 Jahren“ – mit solchen Slogans werben Krankenkassen und Gesundheitsdienste für regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen bei Frauen und Männern der großen Bevölkerungsgruppe 35plus. Die Krankenkassen bezahlen alle zwei Jahre einen Körper-TÜV beim Allgemeinmediziner oder Internisten. Er oder sie ermittelt unter anderem den Blutdruck, Blutzucker und Cholesterinspiegel. „Solche regelmäßigen Checks sind bei gesunden und beschwerdefreien Menschen, die 35, 40 Jahre alt sind, unsinnig“, sagt Prof. Ingrid Mühlhauser von der Universität Hamburg. Dort leitet sie den Fachbereich Gesundheitswissenschaften.

Wichtigstes Anliegen ihres Arbeitsbereiches sind informierte Patienten. „Sie sollten bei ärztlichen Entscheidungen eingebunden sein, sowohl bei schweren Erkrankungen als auch bei der Vorsorge“, sagt Mühlhauser. Bei der Vorsorge gelte es, sich vorab zwei Fragen zu stellen: Wie gehe ich mit positiven Befunden (also negativen Ergebnissen) um? Und: Bin ich bereit zu Behandlungen und Verhaltenstherapien? Wer nicht bereit sei, zum Beispiel einen ungesunden Lebensstil zu ändern, brauche auch keine Ergebnisse aus Vorsorgeuntersuchungen, betont Ingrid Mühlhauser.

Auf jeden Fall sei die untere Altersgrenze der Routinekontrollen zu niedrig angesetzt, kritisiert die 61-jährige Medizinerin: „Junge Leute um die 35 haben keinen Bluthochdruck, es sei denn, sie haben sehr seltene Erkrankungen der Nieren oder des Herzens. Aber darüber sind sie meist schon informiert.“ Ähnliches gelte für zu hohe Cholesterinwerte. Es gebe Menschen mit erblichen Veranlagungen, die auch im jüngeren Alter hohe Werte haben können. Aber auch die wüssten um ihr Risiko.

„Unsinnig“ seien in dieser Altersgruppe auch Blutzuckermessungen. Sie zielten auf den weitaus häufiger auftretenden Diabetes-Typ 2, auch Altersdiabetes genannt. „Sehr adipöse (fettleibige, die Red.) Menschen können vielleicht schon mit 35 Jahren ihren Blutzucker kontrollieren lassen, wenn es in der Familie Veranlagungen zum Diabetes gibt. Aber warum sollte man bei gesunden Menschen den Blutzucker messen?“, fragt sich die Fachärztin für Innere Medizin. „Wenn der Blutzucker stark ansteigt, liegt fast immer die seltene Form des Typ 1 Diabetes vor, und das merken die Patienten an starkem Harndrang, Durst und Gewichtsabnahme.“

Generell empfiehlt Mühlhauser Zurückhaltung bei Vorsorgeuntersuchungen: „Wer sich gesund fühlt und keine Risiken hat, muss nicht zum Arzt gehen.“ Viele Werte würden ohnehin ermittelt: „Bei Frauen, die regelmäßig zum Frauenarzt gehen, wird auch der Blutdruck gemessen. Und bei jeder Krankenhausbehandlung wird Blut abgenommen und untersucht.“ Wer seit Längerem nicht ärztlich untersucht worden ist, könne vielleicht einmal einen Gesundheitscheck machen lassen, „aber der Zwei-Jahres-Rhythmus macht auf jeden Fall keinen Sinn“.

Das sieht Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied der AOK Rheinland/Hamburg ganz anders: „Dieser Check-up obliegt der sogenannten Richtlinie über die Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, die vom Gesetzgeber so festgelegt wurde. Wir sehen keinen Anlass, an der Sinnhaftigkeit dieser Vorsorgemaßnahme zu zweifeln. Zumal jeder Versicherte selbst entscheiden kann, ob er diesem Angebot nachkommt oder nicht.“

Auch wenn der Versicherte gesund sei und sich fit fühle, sollte der „Check-up 35“ alle zwei Jahre durchgeführt werden, da der Arzt durch die regelmäßigen Kontrollen mögliche Veränderungen im Körper frühzeitig erkennen könne, so Mohrmann. Zudem biete der Termin „eine gute Gelegenheit, um auf das Thema Impfen hinzuweisen und Risikoverhalten wie Bewegungsmangel, Alkohol und Ernährung anzusprechen“. Der am häufigsten ermittelte Gesundheitswert – und das ganz ohne ärztliche Hilfe – ist das Gewicht. Starkes Übergewicht kann zwar ein Gesundheitsrisiko darstellen, aber „die Leute werden alle verrückt gemacht“, sagt Mühlhauser. „Übergewicht hat für sich allein keinen Krankheitswert. Bei erhöhtem Blutdruck oder Blutzucker reicht es oft schon aus, zwei bis drei Kilo abzunehmen, um beides besser in den Griff zu bekommen.“ Ein Body-Mass-Index (BMI) von 25 bis 30 sei ein „Übergewicht mit bester Lebenserwartung“ (BMI: Körpergewicht geteilt durch Körpergröße in Metern zum Quadrat).

Mühlhauser spricht vom „Fettsucht-Paradox“: Übergewichtige haben ein größeres Risiko, an den Herzkranzgefäßen zu erkranken. Aber wenn dies passiert und eine Bypass- oder Stent-Operation vorgenommen werden musste, hatten Übergewichtige eine bessere Lebenserwartung und weniger neuerliche Herzinfarkte als schlanke Patienten. Und auf Intensivstationen, oder bei schweren Infektionskrankheiten haben Übergewichtige etwas zuzusetzen, wie der Volksmund sagt.

Die Vorsorgemedizin spreche gerade diejenigen Menschen an, die ohnehin auf ihre Gesundheit achten, bewusst essen, Sport treiben und bei Krankheitsanzeichen zum Arzt gehen, so Mühlhauser. Menschen, die solche Checks nötiger hätten, weil sie den Arzt aus Angst vor schlechten Diagnosen nicht oder zu spät aufsuchen, werden Vorsorgeangebote kaum annehmen.

Dieses Verhalten trägt wohl dazu bei, dass unspezifische Check-ups keinen Einfluss auf die Sterberaten bei Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben. Zu diesem Ergebnis kam im Jahr 2012 eine Auswertung des angesehenen Nordic Cochrane Centre in Kopenhagen. Die Forscher hatten 14 Langzeitstudien mit fast 183.000 Teilnehmern unter die Lupe genommen.

Die Auswertung stieß auf Kritik: Sie basiere auf älteren Studien aus den 1970er- und 1980er-Jahren; inzwischen gebe es bessere Behandlungsmethoden, sodass sich frühzeitigere Diagnose stärker auszahlten, argumentieren die Kritiker. Doch auch bei neueren Methoden werde der Nutzen leicht zu hoch eingeschätzt, warnt Mühlhauser und nennt als Beispiel Statine: Cholesterinsenker, die nachweislich Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt vorbeugen.

„Statine reduzieren das Infarktrisiko um 20 Prozent. Das klingt nach einer großen Zahl. Bezieht man den Erfolg jedoch auf die Gesamtheit der Patienten, sieht die Rechnung anders aus: Angenommen von 100 Menschen, die keine Statine einnehmen, erleiden in den nächsten zehn Jahren fünf einen Herzinfarkt. Dann würde die Zahl mit Statinen um 20 Prozent, also einen Infarkt, sinken. Vier Patienten würden dennoch einen Infarkt erleiden. 95 Patienten würden in beiden Fällen keinen Infarkt bekommen. Für 99 Menschen wäre die Einnahme des Medikaments also völlig zwecklos.“ In England gebe es Stimmen, die der Bevölkerung vorbeugend Statine verabreichen wollen, ohne das Cholesterin zu messen, sagt die Gesundheitsforscherin. „Die Substanzen sind zwar relativ gut verträglich, aber auch sie haben Nebenwirkungen. Deshalb sollten sie nur gezielt eingesetzt werden.“

Derzeit wird ein neues Präventionsgesetz erarbeitet, um die Gesundheitsvorsorge zu verbessern. Mühlhauser bezweifelt, dass die Stoßrichtung des Gesetzes zum Erfolg führt: „Individuelle Verhaltensmaßnahmen, vom Doktor verordnet, sind zum Scheitern verurteilt. Ein Teil der Patienten wird sich nicht daran halten, ein anderer Teil lebt ohnehin gesundheitsbewusst. Viel wichtiger, als über Gesundheitsvorsorge in Betrieben, Altersheimen oder Schulen zu sprechen, wäre eine Diskussion um Arbeits- und Lebensbedingungen. Denn sie sind es, die die Leute krank machen.“

Weitere Informationen: www.gesundheit.uni-hamburg.de