Sie war Fotomodell, studierte Neuropsychologie und arbeitet als Sexologin in Hamburg. In ihrem neuen Buch beschäftigt sich Ann-Marlene Henning vornehmlich damit, dass Sexualität völlig alterslos ist.

Ein tiefrotes Sofa steht in ihrem Beratungsraum und eine Wasserkaraffe, auf dem Bücherbord David Schnarchs Studie „Intimität und Verlangen. Sexuelle Leidenschaft wieder wecken“ und Naomi Kleins Buch „Vagina“. Ann-Marlene Henning lädt hier zur Paar- oder Einzeltherapie. Sie ist Sexologin, und sie ist bekannt: Vor zwei Jahren wurde „Make Love“, ihr Buch mit sachdienlichen Liebesanleitungen, zu einem Bestseller, das in viele Sprachen übersetzt wurde. Die in Dänemark geborene und seit drei Jahrzehnten in Hamburg lebende Henning spricht mit niedlichem Akzent, Fernsehzuschauer kennen sie aus der Fernsehversion von „Make Love“. Henning ist, wenn man so will, ein Update der Figur des Sexaufklärers; sie folgt auf Namen wie Oswalt Kolle, Erika Berger und Lilo Wanders.

In ihrem neuen Buch „Make more Love“ richtet sich das ehemalige Fotomodell Henning vor allem an Menschen im reiferen Alter und deren Liebesleben. Was nicht heißt, dass Henning, die die Menschen auf dem Sofa „Klienten“ und nicht „Patienten“ nennt, zuvörderst diese berät – im Gegenteil, es kommen auch viele Junge.

Gerade sexuell unsichere Männer suchen Hennings Praxis auf, manche von ihnen sind von ihren Freundinnen verlassen worden, weil diese im Bett mehr erwarten. Henning lacht, wenn sie an die Dankesbekundungen jener jungen Männer denkt, denen sie zu sexuellen Erfolgserlebnissen verhelfen konnte. Die schreiben dann auch mal Mails, erzählt sie, „in denen sie sich als den neuen Casanova von Pinneberg bezeichnen“.

In ihrem Videoblog antwortet Henning regelmäßig auf Fragen. Zuletzt waren dort „Peniswochen“, und wer nun schmunzelt, der vergesse nie, dass zwar die dort besprochenen Probleme („Mein Penis ist krumm“) in der Tat die gleichen sind wie die in der „Bravo“, Sex aber nun einmal eine so gewöhnliche wie komplizierte Sache ist. Henning, 50, nimmt ihre Arbeit als Sex-Coach sehr ernst. Interessenten kontaktieren sie in großer Zahl, längst nicht alle kann die Therapeutin als Klienten annehmen. „Wenn ein Pärchen aus Süddeutschland anreist und ein Sightseeing-Wochenende mit einer einmaligen Therapiesitzung verbinden will, sage ich ab“, sagt Henning. Ihre Praxis befindet sich übrigens in Eppendorf, bekannt ist sie mittlerweile aber weit über die Landesgrenzen hinaus.

Hamburger Abendblatt: In Ihrem neuen Buch geht es um Sexualität von Älteren, 40 Jahre und aufwärts. Was ist denn da anders?
Ann-Marlene Henning: Im Körper finden Veränderungsprozesse statt: Die Menopause beispielsweise bei den Frauen ist den meisten ja bekannt, wogegen die Andropause bei Männern eher totgeschwiegen wird, obwohl sie genau so sicher kommt. Die Hormonumstellung bei den Männern bedeutet weniger Testosteron, dadurch weniger Lust und unter anderem störbare Erektionen. Daran wollen Männer nicht gerne erinnert werden.

Als junger Mann denkt man, es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn dieses ganze Geiern mal weniger wird.
Henning: Ja, bestimmt. Meine Klienten kommen aber, weil sie wieder mehr Lust haben wollen, der Sex eingeschlafen oder langweilig geworden ist. Es kommen alle Altersgruppen, meist die zwischen 25- und 65-Jährigen.

Ist es nicht generell ein Problem, dass Männer im Alter von 18 Jahren ihre größte sexuelle Potenz haben, Frauen aber erst mit 40? Das ist kaum in Übereinstimmung zu bringen.
Henning: Da ist was dran, immer mehr Frauen suchen sich einen jüngeren Mann, eben weil sie sich mehr Energie und vor allem auch mehr Sex wünschen. Es kann aber auch mit dem „gleichaltrigem“ Sex klappen, nur müssen beide dann sehr gut über ihren eigenen Körper, ihre Erregung beziehungsweise ihre Lust Bescheid wissen. Jeder Mann, der sich nicht rechtzeitig um seine Erregung kümmert, wird irgendwann Probleme mit seiner Erektion bekommen.

Schläft der Sex in langjährigen Beziehungen ein?
Henning: Ja. Wenn der Zustand des Verliebtseins endet, kommt entweder die Trennung oder die Liebe. Aber Liebeshormone sind nicht gerade förderlich für Sex. Mit denen will man lieber kuscheln, sich Kosenamen geben. Viele flüchten dann für Sex in Affären, aber da entstehen natürlich andere Probleme.

Wie sind Sie zu Ihrem Job als Sexologin gekommen?
Henning: Ich habe Neuropsychologie studiert, mein Geld nebenbei als Model verdient. Dann habe ich angefangen, als Psychologin zu arbeiten. Nach zwei Schicksalsschlägen – Scheidung, Hirnoperation – überlegte ich, wie es in meinem Leben weitergehen soll. Eine Freundin schlug vor: Warum wirst Du eigentlich nicht Sexologin? Und ich dachte, stimmt eigentlich. Heutzutage holt man sich für alles Mögliche Experten, für Kindererziehung und Haarpflege. Sex ist das große Tabuthema, darüber soll man nicht reden. Ich habe aber immer schon gerne über Sex geredet. Deswegen ließ ich mich zur Sexologin ausbilden und arbeite jetzt in einer eigenen Praxis.

Was hat sich seit Ihrer Anfangszeit bei Ihren Beratungen verändert?
Henning: Meine Lebenserfahrung ist größer geworden, das hilft natürlich sehr. Dazu kommt, dass ich mich als Neuropsychologin viel mit dem Hirn beschäftigt habe. Das ist auch in der Sexologie wichtig wegen der „Muster“ und Gewohnheiten, die wir alle in uns tragen, die unseren Alltag steuern. Hinzu kamen die Werkzeuge, um sexuelle Funktionsstörungen zu therapieren, und nicht zuletzt das Wissen über den Körper. Die meisten Menschen mit sexuellen Störungen müssen ihr Gehirn umtrainieren. Wenn jemand Orgasmusstörungen hat oder keine Erektion mehr bekommt, muss er sein Gehirn umprogrammieren.

Wie schafft man das?
Henning: In Verbindung mit Erregung gibt es ein kleines Abc des Körpers. Alles, was mit Anspannung zu tun hat, mit Schnelligkeit, ruppigem Stoßen, ist nicht gut, um Erregung zu verbreiten. Weil der Körper angespannt ist und sich nicht geschmeidig, sondern nur ruckartig bewegt. Viel zu oft haben Menschen auf diese Art verspannten Sex. Es gibt viele, die ihr Potenzial gar nicht nutzen.

Gerade viele Männer scheinen noch nicht einmal zu wissen, dass es dieses Potenzial überhaupt gibt.
Henning: Das sind auf jeden Fall die, die viel vor dem Bildschirm sitzen und sich selbst befriedigen, die ihren Körper nicht einsetzen. Das ist furchtbar und nimmt leider zu.

Wie kann man sein Gehirn grundsätzlich dazu bringen, anders zu begehren? Man weiß ja nicht, woher das Begehren kommt.Henning: Doch – klar weiß man, woher das Begehren kommt! Jeder lernt für sich bestimmte Dinge zu bevorzugen. Angeboren ist nur der Erregungsreflex. Nach und nach entsteht das, worauf man reagiert. Das Gehirn hat gespeichert, irgendetwas mit Genuss zu verbinden, es legen sich Präferenzen fest. Die kann man aber verändern.

Welches Thema wird von Paaren am häufigsten angesprochen?
Henning: Fehlende Lust! Und da steckt oft was ganz anderes dahinter. Die Lust ist da, nur nicht auf den Partner. Wenn eine Frau ehrlich wäre, würde sie oft sagen: Du bist nicht mehr männlich genug, sondern zu weich. Frauen dagegen werden von ihren Partnern als nicht mehr weiblich, als zu hart wahrgenommen. Einerseits sollten Frauen durchaus aktiv sein. Andererseits möchten Frauen gerne von einem Mann „genommen“ werden, nicht von einem Kuschelbären. Übrigens wissen weder Frauen noch Männer oft, wie man den Partner richtig verführt. Dabei reichen oft schon Kleinigkeiten, man berührt den anderen im Vorbeigehen, deutet etwas an, das nicht nach Bruder und Schwester klingt, macht Komplimente. Das Wichtigste ist, dass man jeden Tag daran denkt, dem Partner Aufmerksamkeit zu schenken, dass man Interesse am anderen hat.

Ohne dass Sie Details preisgeben, aber welche extremen Fälle behandeln Sie bei Klienten?
Henning: Extremfälle betreffen meist Männer, die Fetische haben und zwar so spezielle, dass diese Klienten keine Partner mehr finden, um diese Formen von Sexualität auszuleben: Lack, Leder, Schuh-Fetische oder noch weit Abseitigeres.

Können Sie diesen Klienten ein breiteres Spektrum für Ihre Erregung und Fetische anbieten?
Henning: Ja. Wie jede Entwicklung verläuft auch die Sexualentwicklung wellenförmig und lebenslang über neue Entdeckungen. Ich fange damit an, verschiedene Zusammenhänge zu erklären und schlage bald Hausaufgaben vor, mit denen die Klienten üben sollen, sich genauer wahrzunehmen – zum Beispiel vor dem Spiegel. Es geht darum, sich bewusster zu berühren und zu bewegen. Auf jeden Fall müssen sie es mal anders machen als sonst, sich etwas Neues zulegen.

Beraten Sie in dieser Hinsicht auch Ihre Klienten?
Henning: Ja. Persönlich, in Blogs, in Sendungen, in den Büchern. Das wird sehr viel geklickt und geschaut.

Sind die Ansprüche durch den zunehmenden Pornokonsum zu groß geworden?
Henning: Ja, das merke ich. Wenn ein Paar zu mir kommt und fragt: Wir haben keinen S/M, ist das normal? Die Anforderungen an Körper und an Sex sind enorm geworden, völlig unrealistisch.

Möglicherweise ist auch durch die Dauerpräsenz von Sex und Porno sehr schnell ein Sättigungsgefühl erreicht: Was man immer haben kann, das kann man auch auf morgen oder übermorgen verschieben.
Henning: Ja, die Tendenz merke ich. Es gibt eine Pornografisierung des Alltags, die den Menschen zu weit geht. Sie wol- len es wieder intimer und persönlicher, sie wollen es echter. Wir holen uns den Sex vom Porno zurück – das ist ein gutes Motto!

Müssen denn eigentlich alle Sex haben?
Henning: Nein. Ich würde meinen Klienten auch nie sagen, ‚ihr müsst jetzt Sex haben‘. Das größte Problem ist, dass Lust und Unlust nie gleichzeitig bei beiden Partnern da sind, also einer leidet. Psychologisch gesehen ist es grundsätzlich so, dass viele Scheu haben, beim Sex zu sagen, was sie mögen und was nicht. Oder auch: Ich liebe dich. Jeder hält sich zurück.

Wie kann man das ändern?
Henning: Ganz klein, Schritt für Schritt. Und wenn man damit anfängt, seinem Partner zu sagen, dass einem etwas nicht gefällt. Oder dass man einen kleinen Wunsch äußert. Jeder hat Angst, dass der Partner ihn ablehnt, wenn er etwas Kritisches sagt. Die größte Gefahr für Liebe und Sex ist die Angst vor Ablehnung. Aber, wenn man damit mal anfängt, ist es ganz leicht. Die Klienten sind wie befreit.

Ist nicht auch der Druck im Arbeitsleben, der ständige Zeitdruck ein großes Problem?
Henning: Ja, beim Sex muss man sich verlieren. Wie kann man das, wenn man dauernd aufs Handy schauen will? Für guten Sex muss man sich mehr um sich selbst kümmern.

Gerade jüngere Menschen haben oft das Vorurteil, der Sex nehme im Alter ab.
Henning: Laut neuen Untersuchungen haben die Menschen zwischen 30 und 60 am häufigsten Sex. Junge Leute haben oft seltener Sex als Rentner. 70-Jährige, die frisch verliebt sind, haben viel mehr Sex als junge Singles.

Woran liegt das?
Henning: Weil der Körper immer Lust hat.

Ein tröstlicher Ausstieg. Wir danken Ihnen.

„Make more Love“ von Ann-Marlene Henning hat mit Anika von Keiser das Buch geschrieben, Verlag Rogner & Bernhard, 352 Seiten, 22,95 Euro