Wenn Ingrid Schröder ihre alte Heimat in der Nähe von Bremen besucht, ist sie nicht die Professorin aus Hamburg, sondern das Mädchen vom Dorf. Denn die heute 54-Jährige schnackt dann selbstverständlich Platt. Die Sprache ihrer Kindheit hat die Germanistin zu ihrem beruflichen Lebensinhalt gemacht. Seit zwölf Jahren ist sie Professorin für Linguistik des Deutschen/Niederdeutsche Sprache und Literatur am Institut für Germanistik der Universität Hamburg.

„Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen. Dort war Plattdeutsch selbstverständlich“, erinnert sich Ingrid Schröder. In der Schule in Achim dagegen war Niederdeutsch kein Thema. Nach dem Abitur entschloss sich die junge Frau, Deutsch und Latein auf Lehramt zu studieren. Aber statt an den bevorzugten Studienort Hamburg schickte die ZVS sie als niedersächsisches Landeskind zum April 1979 nach Göttingen. Dort entdeckte sie, dass es am Deutschen Seminar eine Abteilung für Niederdeutsch unter der Leitung von Professor Dieter Stellmacher gab. „Die Alltagssprache aus meinem Dorf war ein Forschungsgebiet.“ Ingrid Schröder war begeistert und realisierte schnell, dass sie nicht Lehrerin werden wollte.

Als 1983 eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Hilfskraft zur Bearbeitung des Mittelniederdeutschen Wörterbuchs in Göttingen gesucht wurde, bekam die Studentin den Zuschlag. „Ich saß in der Uni-Bibliothek und las Handschriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert.“

Fünf Jahre später wurde die Arbeit am Mittelniederdeutschen Wörterbuch an die Universität Hamburg verlegt. Ingrid Schröder zog mit Zettelkästen von der Leine an die Elbe und hat die Uni in der Hansestadt bis auf ein dreijähriges „Gastspiel“ als Professorin in Greifswald auch nicht mehr verlassen.

Heute arbeitet die Wissenschaftlerin genau auf der Stelle, die 1926 als außerordentlicher Lehrstuhl für Niederdeutsche Philologie für Agathe Lasch eingerichtet wurde. „Ich fühle mich ihr verpflichtet“, sagt Ingrid Schröder. „Einerseits war Agathe Lasch auch Sozio-Linguistin, und andererseits hat sie das Tor für Frauen in der Wissenschaft aufgestoßen.“ Die Berlinerin erhielt 1923 als erste Frau an der Universität Hamburg sowie als erste Germanistin in ganz Deutschland den Professorentitel. Als Jüdin verlor sie 1934 ihren Lehrstuhl und wurde im August 1942 nahe Riga ermordet.

„Wie wird wo gesprochen?“ ist die Schlüsselfrage, um die sich alles bei Schröders Forschungen dreht. Neben ihrer Arbeit am Mittelniederdeutschen Wörterbuch beschäftigt sich ihr aktuelles Projekt „Einstellungen gegenüber regionalen Sprachformen in der Großstadt“ mit dem Niederdeutschen in Hamburg. „Wir untersuchen den Gebrauch des Niederdeutschen am Beispiel von Kirchwerder und Altenwerder“, sagt die Wissenschaftlerin.

„Wir haben Tonbandaufnahmen von 1979/80 aus Altenwerder“, sagt Schröder. „Einige der Interviewpartner haben wir erneut getroffen und die Unterhaltungen aufgenommen.“ Und hat sich das Niederdeutsche verändert, weil die Menschen nicht mehr in Altenwerder leben? „Nein, wir haben eine stabile Sprachsituation festgestellt. Das Platt ist identitätsstiftend.“

Ein zweiter Teil des Projektes beschäftigt sich mit der Einstellung zum Niederdeutschen im öffentlichen Raum. Wann und warum wird im kulturellen Bereich, in den Medien, in Schulen oder Kirchen und in der Politik Niederdeutsch gesprochen oder geschrieben? Welche Bedeutung hat das Niederdeutsche in der Metropole Hamburg? „Wir wollen auch herausfinden, ob die Sprache ein Stück Liebe zur Heimat Hamburg oder aber ein Teil der eigenen Geschichte ist“, sagt Schröder. Die Forschungen laufen noch zwei Jahre, gerade entwickeln die Uni-Mitarbeiter Fragebögen und führen Interviews.

Privat geht Ingrid Schröder ab und an ins Ohnsorg-Theater. Dann verschwimmen die Grenzen zwischen Freizeit und Beruf, und die Professorin erinnert sich an ihre Kindheit.