Der Chemie-Nobelpreis geht an einen Deutschen und zwei Amerikaner, die neuartige Lichtmikroskope entwickelt haben

Stockholm/Hamburg. Das Gesetz zu brechen, ist normalerweise strafbar. Stefan Hell muss sich darum jedoch keine Sorgen machen, er wird sogar belohnt. Der Forscher vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen konstruierte ein neuartiges Lichtmikroskop, das lebende Zellen bis zu zehnmal schärfer abbilden kann als konventionelle optische Geräte – und brach damit ein Gesetz, das viele Wissenschaftler für endgültig hielten.

An seiner Idee hatten etliche Experten gezweifelt. „Vergiss es, das hat in 120 Jahren niemand geschafft“, hörte er mehrfach. „Du wirst scheitern.“ Doch der gelernte Physiker blieb hartnäckig. Im Jahr 2000 gelang ihm schließlich der Durchbruch. Für sein sogenanntes STED-Mikroskop wurde er schon mehrfach ausgezeichnet, 2011 etwa mit dem Hamburger Körber-Preis. Nun wird dem 51-Jährigen die höchste Ehre zuteil: Wie die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm am Mittwoch mitteilte, erhält Hell den Nobelpreis für Chemie, zusammen mit den Amerikanern Eric Betzig und William Moerner. Auch sie entwickelten neuartige, hochauflösende Fluoreszenzmikroskope, die aber nach einem anderen Prinzip funktionieren. Betzig arbeitet am Janelia Farm Research Campus im US-Bundesstaat Virginia, Moerner forscht an der Universität Stanford in Kalifornien.

Die von den Forschern entwickelten Mikroskopie-Techniken könnten zum Beispiel helfen, Krankheiten besser zu verstehen. Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) lobte am Mittwoch vor allem Stefan Hell. Durch dessen Arbeiten seien völlig neue Einblicke in Gewebe möglich, sagte der DKFZ-Vorstandsvorsitzende Otmar Wiestler: „Wir können jetzt sehen, wie Krebszellen miteinander kommunizieren, wie Krebszellen mit gesunden Zellen des Körpers Kontakt aufnehmen und auf der Basis kann man natürlich versuchen, völlig neue Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln.“

Solche Einblicke in lebende Zellen schienen lange unmöglich. 1873 hatte der deutsche Physiker Ernst Abbe eine Regel formuliert, die er aus der Natur des Lichts ableitete. Licht besteht aus Photonen – Teilchen, die sich in Wellen ausbreiten. Durch ein Objektiv kann man Licht bündeln, aber nur bis auf die Hälfte einer Wellenlänge, 200 Nanometer. Das entspricht etwa dem Zweihundertstel einer Haaresbreite. Strukturen, die enger zusammenliegen, werden quasi gemeinsam beleuchtet und verschwimmen so zu einem einzigen Fleck; sie lassen sich also nicht getrennt betrachten – glaubte Abbe.

Zwar kam einige Jahrzehnte später mit dem Elektronenmikroskop eine scharfsichtige Alternative in die Labore. Heute können die modernsten dieser Geräte, die statt Licht einen Elektronenstrahl nutzen, bis zu 0,1 Nanometer kleine Strukturen abbilden. Doch müssen die Proben trocken sein und – fein geschnitten – in einem Vakuum fixiert werden. Das macht es unmöglich, lebende Zellen zu mikroskopieren.

Lichtmikroskope wiederum galten als ausgereizt. Nur Stefan Hell glaubte, dass sich die Auflösungsgrenze überwinden lasse. An der Natur des Lichts konnte er nichts ändern. Deshalb suchte er nach anderen Lösungen. Doch als er damit nach seiner Doktorarbeit 1990 begann, erntete er nur Kopfschütteln; er fand nicht mal eine wissenschaftliche Stelle in Deutschland. Mit einem Stipendium ging er an die Universität Turku in Finnland und wälzte Lehrbücher.

Normalerweise ist ein Molekül in einem niederenergetischen Zustand. Wird es durch Lichtteilchen angeregt, geht es in einen höherenergetischen Zustand über, strahlt das Licht in einer anderen Wellenlänge zurück und geht in den Grundzustand zurück.

1993 stieß Hell in einem Buch auf die sogenannte stimulierte Emission – und mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: „Wenn sich Teilchen anschalten ließen, könnte ich sie auch ausschalten – und so nur die Strukturen sichtbar machen, die ich sehen wollte“, erzählte er dem Abendblatt. Für dieses An- und Ausschalten eignen sich besonders gut fluoreszierende Farbstoffe, stellte Hell fest und skizzierte seine Theorie: Würde er Proben mit solchen Farbstoffen markieren, könnte er zunächst mit einem grünen, höherenergetischen Laserstrahl den Leuchtprozess anregen. Weil bis zum Leuchten der Farbmoleküle aber eine Milliardstel Sekunde vergeht, könnte er das Molekül mit einem roten, niederenergetischen Laserstrahl stören, wodurch es in den Grundzustand zurückfiele – ohne zu leuchten.

Für sein Vorhaben erntete Stefan Hell zunächst nur Kopfschütteln

Er rechnete es durch und sagte stolz zu seinem finnischen Chef: „Es funktioniert!“ Der entgegnete: „Auf dem Papier.“ 1994 gelang es Hell, seine Idee in der US-Fachzeitschrift „Optics Letters“ zu veröffentlichen. „An hochrangigere Magazine traute ich mich nicht heran. Ich war ja ein Nobody“, erzählte Hell.

Tatsächlich war er ein Mann mit einer bahnbrechenden Idee, aber noch ohne Labor. 1996 stellte ihn das Max-Planck-Institut in Göttingen für fünf Jahre als Leiter einer Nachwuchsforschergruppe an. Mit Fördermitteln des Bundesforschungsministeriums konnte er 1998 einen Prototypen seines STED-Mikroskops bauen – das Kürzel steht für Stimulated Emission Depletion, stimulierte Emissions-Löschung.

Doch noch 2000 lehnten die renommierten Magazine „Science“ und „Nature“ seine Idee ab. Erst eine Veröffentlichung im Magazin „PNAS“ brachte den Durchbruch. Das Max-Planck-Institut in Göttingen machte Stefan Hell zum wissenschaftlichen Direktor.

2007 kamen die ersten STED-Mikroskope auf den Markt. 2011 hatten sie bereits eine Auflösung von 20 Nanometern erreicht. Seitdem arbeitet Hell daran, die Fluoreszenzfarbstoffe mit weniger Licht an- und auszuschalten. Das würde die Auflösung nochmals erhöhen, außerdem ließe sich die schädigende Wirkung reduzieren, welche die Laser auf die Zellen haben können.

Den Anruf der Nobelpreisjury am Mittwoch hielt Stefan Hell zunächst für einen Scherz. Schließlich habe er die Stimme des Komiteevorsitzenden Staffan Normark erkannt. Und dann „langsam realisiert, dass es tatsächlich die Wahrheit ist“, sagte er. Anschließend habe er zuerst seine Frau angerufen.

Die Amerikaner Eric Betzig und William Moerner entwickelten ein anderes Verfahren, die Einzelmolekül-Fluoreszenzmikroskopie. Dabei regt ein Laserstrahl einige wenige Moleküle zum Leuchten an. Dieser Vorgang wird mit anderen Molekülen wiederholt. Die Einzelbilder werden kombiniert, sodass die Leuchtpunkte ein Gesamtbild ergeben. Dieses ist ähnlich eindrucksvoll wie die Aufnahmen eines STED-Mikroskops: viel schärfer, als es früher etliche Forscher für möglich hielten.

„Glücklich, aber vor allem überrascht“ reagierte Eric Betzig auf den Chemie-Nobelpreis. „Ich gucke seit einer halben Stunde auf meinen Computer, aber könnte genau so gut ins Nichts gucken. Ich bin wie gelähmt“, sagte der 54-Jährige in München. Dort wollte er am Nachmittag einen Vortrag halten. „Ich werde das natürlich tun. Es gibt keinen Grund, nun nicht weiterzuarbeiten“, sagte er. Am Donnerstag fliege er zurück. „Am Freitag hat meine Tochter Geburtstag. Da können wir gleich beide feiern.“