Wettbewerb „Natur im Fokus“ rückt Hamburgs Grün ins Rampenlicht – ein botanischer Streifzug vom Hauptbahnhof zur Alster

Hamburg. Hauptbahnhof Hamburg zum Wochenende: Überall herrscht quirliges Treiben, nur am Nordende von Gleis elf haben zwei Passanten die Ruhe weg. „Schauen Sie, da vorn, zwischen den Gleisbetten wächst Clematis vitalba, die Gewöhnliche Waldrebe. Eine hübsche Pflanze, die in den 1980er-Jahren noch selten war und sich inzwischen ausgebreitet hat“, sagt der Botaniker Dr. Hans-Helmut Poppendieck, der Hamburgs Flora wohl wie kein Zweiter kennt. Neben ihm steht Werner Steinke, Stadt- und Landschaftsplaner bei der Umweltbehörde. Die beiden Experten begleiten das Hamburger Abendblatt auf eine kurze botanische Exkursion zur Alster – und nehmen die Natur in den Fokus, passend zum laufenden Wettbewerb der Umweltbehörde (s. Kasten).

Die Waldrebe, so doziert Poppendieck weiter, habe von der behördlichen Leitlinie profitiert, nur noch heimische Sträucher zu verwenden: „Gartenämter pflanzten die Clematis an Bahndämmen und Schallschutzwänden. Damit war sie ans Verkehrsnetz angeschlossen und ließ sich mit ihren federartig behaarten Samen vom Fahrtwind verbreiten.“ Auch der Götterbaum schlug auf einem Grünstreifen zwischen den Gleisen Wurzeln – „ein typischer Stadtbaum, der warme Sommer braucht, damit seine Samen ausreifen“, sagt Poppendieck. Selbst ein Bergahorn quält sich am Rande des Gleisbettes, ein meterlanges Stämmchen ohne Seitenäste – „der hat sich hochgehungert“, kommentiert Poppendieck.

Der Botaniker aus Leidenschaft liebt Brachen mit ihrer Ruderalvegetation. Gemeint sind Wildkräuter, die als Pioniere nährstoffarme Schotterflächen besiedeln und damit weiteren Pflanzen den Weg ebnen. Was manche Bürger als Unkraut bezeichnen, ist Teil der pflanzlichen Artenvielfalt. Die Pioniere zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Artenzahl – anders als bei anderen Gewächsen – zum Stadtzentrum hin zunimmt.

„Die große Zeit der Stadtbrachen ist vorbei“, bedauert Poppendieck. „Aus den Freiflächen im Hafen wurden Containerstandorte, Hamburger Güterbahnhöfe wurden zu Wohngebieten.“ Der Hamburger Naturschutz fördere Brachen, ergänzt Steinke. Die Natur profitiere auch davon, dass die Stadt Hamburg wenig Geld für die Pflege von Parks und Grünanlagen habe: „Wir haben pro Quadratmeter und Jahr 50 bis 70 Eurocent zur Verfügung, in Zürich sind es umgerechnet 9,90 Euro.“ Allerdings stoße Wildwuchs nicht immer auf Gegenliebe der Stadtbewohner.

Mit den Brachen verschwanden blütenreiche Flächen, die Insekten und der Vogelwelt Nahrung geboten haben, bedauern die Experten. Poppendieck wünscht sich, dass die städtischen Grünämter „mit Wildmaterial ästhetisch gärtnern“. „Wir können von der Natur lernen“, sagt Steinke. „Wenn wir sehen, dass sich der Götterbaum in Hamburg erfolgreich verbreitet, so können wir dies für unsere Pflanzungen nutzen. Gepflanzte Kastanien und Ulmen gehen derzeit in Hamburg ein – der erfolgreiche Götterbaum bietet sich als Alternative an.“

Ein typischer Innenstadtbaum ist die Platane. Sie passt gut in dicht besiedelte Gebiete, denn sie verkraftet verschmutzte Luft und verdichtete Böden. Die zwei großen Platanen vor dem Eingang der Kunsthalle sind echte Überlebenskünstler. Ihre Baumscheibe (offener Boden um den Stamm herum) beträgt nur ein Bruchteil des Kronendurchmessers. Eigentlich bräuchten Bäume im Radius ihres Blätterdaches offenen Boden, sagt Poppendieck, doch stattdessen liegen hier kleine graue Pflastersteine, die zudem auch noch verfugt sind. „An Orten wie diesen, vor dem Museumseingang, müssen die Fugen ausgefüllt sein. Denn wenn jemand mit Stöckelschuhen am Pflaster hängen bleibt und sich verletzt, kann er Schadenersatz von der Stadt verlangen“, erläutert Steinke.

Trotz oftmals widriger Wuchsbedingungen seien die Hamburger Straßen mit 245.000 Bäumen gesäumt, betont der Stadtplaner. Viele von ihnen müssen mit begrenztem Wurzelraum auskommen, leiden unter Wasser- und Nährstoffmangel in verdichteten Böden und werden zusätzlich durch Streusalz attackiert. Manche Bäume wachsen auf ungeeigneten Standorten, so Steinke, auch deshalb müssten jährlich 1500 bis 2000 Straßenbäume gefällt werden. Gute Plätze für Neupflanzungen seien rar: „Im potenziellen Wurzelraum verlaufen Kabel und Rohre, in engen Straßen herrscht Platz- und Lichtmangel.“

Hinter der Galerie der Gegenwart passieren die beiden Männer begrünte Verkehrsinseln an der Lombardsbrücke und der Kennedybrücke. Auch hier gedeihen große Stadtbäume, und das unter weit besseren Bedingungen als die Platanen vor der Kunsthalle: Die Bäume stehen im Grünen, umgeben von Grasflächen. Ein Baum hat es Poppendieck besonders angetan, eine Trauerweide der Art Salix blanda. Ihre herabhängenden großen Äste berühren den Boden, haben dort Wurzeln geschlagen. „Man kann gut erkennen, dass die Weide eigentlich eine Auwaldpflanze ist, die sich auch vegetativ, also über Ableger vermehrt“, kommentiert der Botaniker den knorrigen Baum, „schön, dass er am Leben gehalten wird.“

„Er ist unser Problembär, um es mit dem Wort des Herrn Stoiber auszudrücken“, kontert Steinke. Schließlich erfüllt der Baum mit seinen bis zum Fahrbahnrand ausladenden tiefen Ästen nicht das Anforderungsprofil für Straßenbäume. Es lautet: lichte Höhe von 3,80 Metern und eine mehr oder weniger kugelige, geschlossene Krone. Poppendieck nennt sie Baumschulbäume: Sie werden in den ersten Jahren streng erzogen. Genau so, wie man sie haben will und nicht, wie sie von Natur aus wachsen würden.

An der Außenalster genießen die Stadtgrün-Experten den Blick auf das von Bäumen und Sträuchern gesäumte Ufer. Poppendieck lobt Schilfpflanzungen, die den Uferbereich erweitern. Rund um die Alster herrsche großer Erholungsdruck, schränkt Steinke ein, da sei der Naturschutz besonders gefordert. Poppendieck entdeckt Engelwurz am Uferrand, eine „hübsche Charakterpflanze der Alster“. Und er erzählt von einer weiblichen Pestwurz in Höhe des amerikanischen Konsulats: „Die weiblichen Pflanzen der Art sind sehr selten. Dieses Exemplar ist ein Relikt des ersten botanischen Gartens der Stadt, der in der Franzosenzeit (1806 bis 1814, die Red.) zerstört wurde.“

Auf dem Rückweg zum Hauptbahnhof bückt sich der Botaniker zu einem zarten grünen Gewächs, das zusammen mit anderen Pflanzen zwischen den Betonsteinen einer Verkehrsinsel siedelt. „Das ist Franzosenkraut, das können Sie essen. Allerdings ist diese Pflanze an dem verkehrsreichen Standort natürlich nicht zum Genuss zu empfehlen. Aber es gibt Gebiete, wo man problemlos Kräuter und Früchte vom Wegesrand naschen kann.“

Stichwort essbare Stadt: Wäre es nicht sinnvoll, mehr Obstbäume und -sträucher zu pflanzen, an denen sich die Hamburger verköstigen können? Steinke winkt ab: „Die Stadt Andernach hat Blumenrabatten in Obst- und Gemüsebeete umgewandelt. Hamburg fehlt dazu das Geld. Hier werden die Bürger selbst aktiv und bewirtschaften auf eigene Faust ungenutzte Grünflächen. Sie folgen dem Trend des Urban Gardening, des urbanen Gärtnerns.“

Von städtischen Obstbäumen hält Steinke gar nichts: „Wenn da ein Apfel auf ein Auto fällt, ist Schadenersatz fällig.“ Aber auch in Sachen Lebensmittelanbau gibt es bereits Wildwuchs, Beispiel Hauptbahnhof: In einer Pflasterritze auf dem Bahnsteig von Gleis elf wächst eine Tomatenpflanze. „Auf der anderen Seite gibt es einen Apfelbaum“, sagt Hans-Helmut Poppendieck und freut sich über die Hartnäckigkeit der zufällig ausgesäten Pflanzen.