An der Küste beginnen die auffälligen Seevögel junge Pazifische Austern zu verspeisen. Und in Hamburg brüten sie auf Dächern

Hamburg. Austernfischer fressen Austern. Was wie eine Binsenwahrheit klingt, ist für Vogelkundler am Wattenmeer eine kleine Sensation. Denn die schwarz-weißen, gut taubengroßen Vögel mit ihrem charakteristischen roten Schnabel, Beinen und Augenrändern stochern bislang vor allem nach Würmern und brechen Herz- und Miesmuscheln auf. Austern ließen die Watvögel, ihrem Namen zum Trotz, links liegen, denn deren Schalen sind in der Regel zu hart, um von Austernfischern geknackt zu werden.

Eine Untersuchung am Dorumer Nacken nahe der ostfriesischen Insel Baltrum hat nun gezeigt, dass die Vögel gelernt haben, die raue Schale von jungen Pazifischen Austern (Crassostrea gigas) zu öffnen. Damit nutzen sie ein neues Nahrungsangebot, das immer üppiger wird. Die exotische Auster kam vor Jahrzehnten als Farmtier nach Sylt (bekannt als Sylter Royal) und an die niederländische Küste. Zunächst ging man davon aus, dass die Schalentiere im Wattenmeer zwar wachsen, sich aber aufgrund der für sie zu kühlen Wassertemperaturen nicht vermehren. Doch das Wattenmeer hat sich nach Angaben des Alfred-Wegener-Instituts in den vergangenen 30 Jahren durchschnittlich um 1,5 Grad erwärmt. Folge: Die Auster vermehrte sich rasant und verwandelte viele heimische Miesmuschelriffe in Austernriffe.

Geflügelte Muschel-Liebhaber wie der Austernfischer oder die Eiderente haben das Nachsehen. Und natürlich auch die Muscheln selbst. Um 1990 gab es im schleswig-holsteinischen Wattenmeer noch rund 1500 Hektar (ha) Miesmuschelbänke. Gut 25 Jahre später waren es nicht einmal mehr 300 ha, schreibt der Verein Jordsand in seiner Mitgliederzeitschrift „Seevögel“. Wohl oder übel rackert sich mancher Austernfischer nun mit den härteren Austern ab. Im zentralen Wattenmeer öffnen die Vögel Jungaustern von einer Größe bis zu 6,8 Zentimetern, berichtet Jordsand. Je nach Größe der kleinen Austern brauchen die Vögel dazu elf bis 54 Sekunden, so zeigte sich vor Baltrum.

Der Verein Jordsand mit Sitz in Ahrensburg wählte den Austernfischer zum „Seevogel des Jahres 2014“. Damit wollen die Naturschützer auf den starken Rückgang der Art hinweisen. Im schleswig-holsteinischen Wattenmeer halbierte sich die Zahl der Brutpaare innerhalb von 15 bis 20 Jahren auf rund 10.000 Paare. Für das gesamte deutsche Wattenmeer wird ihre Zahl auf gut 25.000 Paare taxiert.

Dem Hamburger Wattenmeer-Nationalpark dient der auffällige Vogel, der durch sein ausdrucksstarkes Gefieder und seine schrillen Rufe auf sich aufmerksam macht, als Maskottchen. Austernfischer Freddi erklärt den Besuchern der Insel Neuwerk die Natur, ziert Broschüren und Info-Tafeln. „Wir haben mehr als 1000 Brutpaare auf Neuwerk“, sagt Nationalparkleiter Dr. Klaus Janke.

Die Tiere brüteten überall auf der Insel, sogar auf Rinderweiden oder auf dem Deich. Im Winter seien es noch mehr, um die 20.000 Vögel, so Janke. „Bei Hochwasser, wenn die Wattflächen überflutet sind und die Austernfischer nicht nach Nahrung suchen können, stehen sie dicht gedrängt im Vorland und wirken dann wie ein dunkler Teppich. Alle sind mit den Köpfen gegen den Wind ausgerichtet und haben die Schnäbel in die Federn gesteckt.“

Nicht nur am Hamburger Außenposten im Meer brüten die Seevögel, sondern auch im Stadtgebiet. Die ersten Austernfischer kamen in den 1950er- und 1960er-Jahren das Elbtal hinauf, siedelten zum Beispiel auf Spülfeldern. „Bei der Brutplatzwahl achten die Vögel vor allem auf freie Sicht“, sagt der Hamburger Ornithologe Alexander Mitschke. „Sie hatten sich in der Vergangenheit ab und zu auch im Grünland oder auf Hafenbrachen niedergelassen, doch ist dort der Druck von Fressfeinden wie Fuchs oder Möwen sehr hoch.“

Dann entdeckten die Tiere die Hamburger Dächer. Vor allem die mit Kies bedeckten Flächen verbreiten bei den Vögeln offenbar Strand-Feeling, sagt Mitschke. Seit 1986 brüten Austernfischer auf dem Elbe-Einkaufszentrum in Klein Flottbek. Auch nach Umbau und Renovierung lässt sich dort jedes Jahr ein Paar nieder. Nicht immer läuft das Brutgeschäft rund. Immer mal wieder fällt ein Küken vom Dach und irrt ängstlich piepsend zwischen der Kundschaft umher. Über den Köpfen der Passanten flattern dann die Elternvögel und stoßen schrille Warnschreie aus. Herbeigerufene Helfer setzen die flauschigen Bündel zurück aufs Dach, schreibt der Biologe Dr. Uwe Westphal in seinem Buch „Wilde Hamburger“.

Auch auf den Kiesdächern des Forschungszentrums Desy in Bahrenfeld, auf Airbus-Werkshallen in Finkenwerder oder auf Flughafengebäuden in Fuhlsbüttel wurden schon Austernfischer flügge. Mitschke schätzt die Zahl der in Hamburg brütenden Paare auf 140, von denen der weit überwiegende Teil auf Flachdächern nistet. „Die Dächer müssen mit Kies belegt sein, blanker Asphalt wird zu heiß“, sagt der Vogelkundler. Zudem komme es auf die Lage an: „Gepflegter grüner Rasen in der Nachbarschaft macht den Standort attraktiv. Denn dort können die Vögel nach Würmern stochern. Ideal sind Sportplätze und andere Flächen, die in regenarmen Hitzeperioden bewässert werden. Denn ansonsten wird der Boden bei längeren Trockenzeiten hart, und die Würmer ziehen sich in tiefere Schichten zurück, unerreichbar für die Austernfischerschnäbel.“

Wenn die Jungen flügge sind, fliegen die in Hamburg brütenden Altvögel mit ihnen sofort zur Küste, sagt Mitschke. Er nimmt an, dass der Bruterfolg der Städter geringer ist als der von Vögeln, die auf fuchsfreien Inseln nisten: „An der Küste laufen die Jungen den Eltern hinterher. Wenn diese einen Wurm erbeutet haben, müssen sie sich nur umdrehen und ihn in die bettelnden Schnäbel stecken. In der Stadt dagegen müssen die Altvögel mit jedem Wurm aufs Dach fliegen.“ Austern und Miesmuscheln fallen im Häusermeer als Nahrung sogar komplett aus. Sie gibt es in Hamburg höchstens in Restaurants oder an Imbissständen.