Die Spinnseide der Tiere könnte womöglich als neues Wundpflaster für eine schnellere Heilung sorgen. Hamburger Forscher arbeiten unter anderem an der Verwendung des Stoffes in der Mundchirurgie.

Hamburg. „Ich bin gleich bei ihnen, geht gleich los“, sagt Ralf Smeets. „Einen Kaffee?“, ruft er im Weggehen, er muss noch schnell etwas erledigen. Zehn Minuten später nimmt er Platz vor der Cafeteria im Uniklinikum Eppendorf und legt zwei Handys und ein Notebook auf den Tisch. Er will erreichbar bleiben, es gibt viel zu tun. In 40 Minuten beginnt sein nächster Termin.

Smeets, 44, war schon früher viel in Bewegung: Der gebürtige Holländer studierte in Aachen erst Chemie und danach Human- und Zahnmedizin, er schrieb zwei Doktorarbeiten, forschte in Boston und Los Angeles, London, Innsbruck, Zürich und Basel. Dann stieß er in Aachen durch die Firma Spintec auf einen Stoff, der ihn zusätzlich auf Trab brachte: Raupenseide.

Eigentlich kein Grund zur Aufregung, möchte man meinen. Denn Raupenseide wurde schon vor 5000 Jahren in China zu Garn verarbeitet. Heute werden aus dem Naturstoff weltweit unter anderem Halstücher, Blusen, Unterwäsche, Bettdecken und Zahnseide hergestellt. Dafür interessiert sich Smeets weniger – was ihn so begeistert, sind mögliche neue Anwendungen für die Medizin. „Es ist faszinierend, was man mit Raupenseide alles machen könnte“, sagt er. „Von Gefäßkathetern für die Herzchirurgie über Wundauflagen bis zur Knochenregeneration – da sind schon vielversprechende Vorversuche gelaufen.“

Fünf Jahre treibt Smeets das Thema bereits um. Aus Aachen war er nach Hamburg gewechselt; hier arbeitet er als Professor für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Uniklinikum. Spintec steht er als wissenschaftlicher Berater zur Seite. Aber noch immer ist die Raupenseide nicht als Medizinprodukt auf dem Markt. Vor einiger Zeit kam eine bereits geplante Studie doch nicht zustande. „Es ist ein mühsamer Weg“, sagt Smeets.

Nun aber geht es wieder voran: Mit 2,9 Millionen Euro fördert die EU ein neues Forschungsprojekt unter Smeets’ Leitung. In den kommenden drei Jahren sollen die beteiligten Wissenschaftler eine Wundauflage aus Raupenseide erproben, die im Mund zum Einsatz kommen soll, etwa nach einer Tumor-Operation. Vorteil der Methode laut Smeets: Eine Transplantation von anderem Körpergewebe als Ersatz soll nicht mehr nötig sein. Und auch Nähte seien nicht mehr nötig, weil das Seidenpflaster mit einem Laser fixiert werden soll. Neben dem UKE und Spintec sind fünf weitere Forschergruppen und Firmen an dem Projekt beteiligt.

Raupenseide wird heute in riesigen Farmen vor allem in China, Kambodscha, Vietnam und Brasilien produziert. Dabei nutzen Menschen den Umstand, dass die Raupen des Seidenspinners (Bombyx mori) sich in einen Kokon aus Seidengarn einspinnen. Die Weiterentwicklung zum Schmetterling bleibt den Raupen verwehrt: Bevor sie sich verpuppen, werden sie in den Fabriken mit Dampf oder kochendem Wasser getötet. Anschließend wird die Seide gereinigt.

Bei Spintec in Aachen sterben die Raupen für Medizinprodukte. Die Firma wirbt damit, die Seidenfäden auf Textilmaschinen zu verschiedenen Geweben oder Vliesen verarbeiten zu können, die dann zum Beispiel als Wundauflage dienen.

Andere Forschergruppen setzen auf Spinnenseide. Aber diese Fäden direkt zu gewinnen, ist schwierig, weil sich viele Spinnenarten nicht als „Herde“ in einem Käfig halten lassen. „Wir haben es anfangs auch mit Spinnen versucht, aber die Tiere haben sich gegenseitig gefressen“, sagt Ralf Smeets. „Raupen sind viel einfacher zu halten. Und das Futter für eine Raupe kostet pro Monat nur etwa 60 Cent.“

Besondere Eigenschaften soll auch die Raupenseide haben. Zumindest in Zell- und Tierversuchen habe sich gezeigt, dass die Seide wie eine Brücke wirke, an der Zellen entlang wüchsen, bis die Wunde geschlossen sei, sagt Smeets. Während dieses Vorgangs werde die Seide abgebaut, bis nichts mehr von ihr übrig bleibe. „Das Wichtigste ist, dass dies pH-neutral geschieht, also ohne dass das Gewebe durch Säuren oder Basen geschädigt wird.“

Dem Mediziner zufolge gibt es für Wunden im Mund bisher kein vernünftiges Pflaster. „Der Mund ist feucht, er ist warm, da haftet nichts. Bisher näht man vorübergehend nach Operationen etwa eine Kompresse fest, die unter Umständen mehrfach getauscht werden muss“, erläutert . „Wir testen nun die Seide und zum Vergleich eine Auflage aus Kollagen vom Schwein. Wenn es optimal läuft, wachsen die Zellen aus der Peripherie in den Träger aus Seide ein und sorgen so für einen Wundverschluss – ohne erneute Wechsel der Wundauflage.“ Für Patienten hieße das, dass sie nach der Operation keinen weiteren Eingriff über sich ergehen lassen müssten. „Nach zehn bis zwölf Wochen könnte die Wunde im Idealfall verheilt sein“, sagt Smeets. Günstig für die Heilung sei auch, dass keine Naht mehr benötigt werde. Der neuartige Laser, der die Seidenauflage durch einen Trick fixieren soll, ohne dabei Zellen zu verbrennen, wird von einem Partner in Italien entwickelt.

Soweit die Pläne. Ob all das im Mund wirklich funktioniert, soll sich nun zuerst in Versuchen mit Kaninchen zeigen. „Man muss klar sagen, dass Versuche mit Zellkulturen und mit Tieren nur Tendenzen angeben“, sagt Smeets. Ob sich die Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen, ist offen. Im günstigsten Fall könne in vier bis fünf Jahren eine klinische Studie beginnen.

Studien mit Spinnenseide sind schon etwas weiter. Forscher von der Klinik für Plastische, Hand- und Wiederherstellungschirurgie an der Medizinischen Hochschule Hannover erproben, ob Seide von Goldenen Radnetzspinnen helfen kann, durchtrennte Nerven wieder zusammenwachsen zu lassen. Diese Spinnenart gilt als relativ friedlich. 20 bis 40 Tiere leben in einem Raum zusammen, ohne sich zu fressen; etwa 80 erwachsene Tiere halten die Forscher insgesamt. Ähnlich wie bei den Experimenten der Hamburger dient die Seide als Leitschiene, an der Zellen entlangwachsen. In Zellkulturen sowie bei Ratten und Schafen habe dies schon funktioniert, sagt Kerstin Reimers, die die Experimente leitet. Möglichst bald wollen die Biologen und Mediziner eine klinische Studie mit Menschen starten; noch allerdings gibt es keinen Starttermin.

Offen ist auch, ob sich natürliche Spinnenseide in großem Maßstab produzieren ließe. Der US-Designer Nicolas Godley und der britische Kunsthistoriker Simon Peers stellten 2012 einen goldenen Umhang vor, der komplett aus Seide von Radnetzspinnen gewebt worden war. Dafür hatten Arbeiter auf Madagaskar drei Jahre lang etwa eine Millionen Spinnen zum „Melken“ eingesammelt. 14.000 Spinnen waren nötig, um eine Unze – etwa 30 Gramm – Seide zu gewinnen. Eine Alternative wäre künstliche Spinnenseide. 2010 hatten Forscher die molekularen Grundlagen der Fadenproduktion entschlüsselt. Die Firma Amsilk bei München verfügt nach eigenen Angaben bereits über eine Pilotanlage, die tonnenweise künstliche Seidenfäden herstellen kann.

Für die Spinnenseide als Medizinprodukt spricht laut Kerstin Reimers, dass der Stoff zumindest in Experimenten keinerlei allergische Reaktionen hervorruft. Bei Raupenseide hingegen wurde in früheren Studien festgestellt, dass die Fäden an offenen Wunden allergen wirken können. Schuld war das Sericin, ein an den Fäden haftendes Klebeprotein, dass damals nicht ganz entfernt werden konnte. Das führte dazu, dass Garn aus Raupenseide nicht mehr zum Vernähen von Wunden eingesetzt wurde. Bei den von ihnen genutzten Fäden handele es sich um reines Seidenprotein, sagt Smeets. Das Sericin werde durch moderne Verfahren komplett beseitigt. In ihren Experimenten hätten sie bisher keine allergischen Reaktionen feststellen können.

Zu dem neuen Forschungsprojekt am UKE gehören nicht nur Experimente mit normaler Raupenseide. Die Wissenschaftler wollen auch eine Wundauflage aus Seide von gentechnisch veränderten Raupen erproben. Dieses „Sonderpflaster“ soll Risikopatienten helfen, bei denen die Wundheilung schlechter funktioniert oder deren Wunde sich infiziert hat. „Bisher war die Strategie, die Wundauflage mit Antibiotika oder Wundheilungsfaktoren zu tränken. Aber Antibiotika sind teuer“, sagt Smeets. Die biopharmazeutische Seide, wie Spintec das Produkt nennt, soll an der Wunde eine heilende Wirkung entfalten – wie genau, wollen Smeets und Spintec nicht verraten. Wenn das funktionierte, wäre eine Zulassung als Medikament nötig.

„In unsere Forschung mit der Raupenseide ist schon so viel Herzblut geflossen ...“ Ralf Smeets seufzt. Ginge es nach ihm, ginge alles viel schneller. „Aber es macht ja auch viel Spaß“, sagt er dann noch, wie um sich Mut zu machen. Der nächste Termin wartet.