Jedes Jahr werden Tausende medizinische Studien veröffentlicht. Doch der Gewinn für Patienten halte sich in Grenzen, bemängeln Kritiker.

Hamburg. Als der Krebs bei Alessandro Liberati im Jahr 2011 zurückkehrte, schaute er in eine Datenbank mit klinischen Studien. Der medizinische Statistiker gab den englischen Begriff „Multiple Myeloma“ ein und stieß auf 1384 Studien zu seinem Krebs, der blutbildende Zellen verdrängt. Nur 58 davon untersuchten dezidiert, ob eine Therapie die Chance auf ein längeres Leben erhöht. Keine verglich direkt Medikamente und Strategien.

Was sollten all die Studien, wenn sie ihn, den Statistiker, als Patienten nicht weiterbrachten bei einer Therapie-Entscheidung, fragte Liberati damals im Fachblatt „The Lancet“. Das Medizinjournal veröffentlichte kürzlich eine Artikelserie über Verschwendung in der Forschung. Darin listen internationale Autoren auf, was sich bessern muss, um Patienten Ergebnisse zu liefern, die wirklich nützlich sind.

Liberati, der 2012 starb, plädierte für die evidenzbasierte Medizin, bei der das Wissen aus klinischen Studien systematisch zusammengefasst wird. Der britische Gesundheitsforscher Sir Iain Chalmers, Mitbegründer der Cochrane Collaboration, die sich der evidenzbasierten Medizin widmet, stellte vor einigen Jahren die These auf, dass 85Prozent der Investitionen in der biomedizinischen Forschung verschwendet seien. Experten berichten etwa, dass von 1575 Artikeln über Krebsmarker, die im Jahr 2005 erschienen, 96 Prozent mindestens einen Marker nannten, der für die Prognose von Krebspatienten wichtig sein könnte. Doch nur wenige Stoffe hätten in die Klinikroutine Einzug gehalten. Das Muster zieht sich durch die biomedizinische Forschung: Vielversprechende Funde führen nicht zu besseren Behandlungen.

Ein Grund dafür: Manche Laborergebnisse sind Eintagsfliegen und lassen sich nicht wiederholen. Das US-Biotech-Unternehmen Amgen versuchte einmal, 53 Ergebnisse zu wiederholen – und schaffte es nur bei sechs. Auch der Direktor der amerikanischen National Institutes of Health (NIH), Francis Collins, hält die mangelnde Reproduzierbarkeit für ein großes Problem. In einem Beitrag in der Fachzeitschrift „Nature“ empfahl er jüngst Gegenmaßnahmen, etwa eine Pflichtausbildung in Forschungsmethodik für Nachwuchsforscher.

„Wir beobachten derzeit eine Übergangsphase im Wissenschaftssystem: Es wurden wahnsinnig viele Daten produziert, und wir hinken mit dem Datenmanagement hinterher. Die Diagnose, die die „Lancet“-Serie in ihrer Zusammenfassung stellt, ist nicht ganz neu, aber richtig“, sagt Prof. Jörg Hacker, Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle. „Einerseits gibt es jeden Tag zahlreiche Ergebnisse in der Biomedizin, andererseits fehlt manchmal die Erkenntnis darüber, ob und wie relevant sie sind, und die Forscher bleiben auf gewohnten Wegen.“

Derzeit bestehe ein „brennendes Problem“ bei Antibiotika-Resistenzen. „Um neue Wirkstoffe auf den Weg zu bringen sind aber teure klinische Studien und eine Menge Koordination erforderlich.“ Daran hapere es.

Chalmers sieht einen weiteren Fehler im System: Bereits bei der Planung werde zu wenig überprüft, welche grundlegenden Ergebnisse zu einem Thema schon vorliegen. Das bestätigt Prof. Gerd Antes vom Deutschen Cochrane Zentrum in Freiburg. Es sei „bestürzend, dass Forscher sich offensichtlich nicht ausreichend informieren, welche Evidenz es bereits gibt. Teils werden Fehler wiederholt, oder man bleibt auf dem Holzweg.“

Einige Beispiele: Mehr als 7000 Schlaganfall-Patienten hätten nicht an einer Studie zu einem Wirkstoff teilnehmen müssen, denn Tierversuche hatten gezeigt, dass die Substanz keinen Schutz bietet. Umgekehrt gab es für ein Medikament zur Eindämmung von Blutungen bei Operationen fundierte Belege zur Wirksamkeit. Dennoch folgten weitere Studien. Und viele für Patienten wichtige Fragen bleiben offen, etwa die Bedeutung von Bewegung und Physiotherapie bei Gelenkverschleiß.

In Deutschland verlangt das Bundesforschungsministerium (BMBF), dass Antragsteller für Fördermittel darlegen, welche Forschung es auf dem Gebiet bereits gab. Alle Angaben müssen belegt werden, samt der Suchstrategie.

In Großbritannien sucht man gezielt nach Lücken. „Lancet“-Autor Chalmers koordiniert die James Lind Initiative. Diese versucht in einem Prozess mit Patienten, Pflegekräften und Ärzten, offene Fragen zu Behandlungen zu identifizieren. Und die Datenbank UK Database of Uncertainties about the Effects of Treatments sammelt Lücken im Therapiewissen.

Auch die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) will Defizite aufdecken. Sie möchte Kollegen über den aktuellen Stand informieren, außerdem entstand ein Studienregister. „Wir haben eine exponentielle Zunahme an Publikationen, die keiner mehr überblicken kann, auch nicht für das eigene Fachgebiet“, sagt Prof. Oliver Hakenberg, Generalsekretär der Fachgesellschaft.

Er nennt Beispiele von Krankheiten, die „traditionell auf eine bestimmte Art und Weise behandelt werden – aber vielleicht gibt es dafür gar keine Evidenz. Dazu gehört das Nierenbeckenkarzinom, bei dem immer die ganze Niere entfernt wird – ist das nicht eine Übertherapie? Muss man die Niere wirklich ganz entfernen?“ Oder bestimmte kleine Hodenkarzinome: „Wäre es möglich, nur den Teil des Hodens zu entfernen, der bösartig entartet ist? Würde das mit Blick auf die Prognose nicht ausreichen?“ Methodiker sollen nun Urologiestudien gezielt durchforsten und planen.

Die Rolle Deutschlands für die internationale klinische Forschung ist unklar. In einem Papier des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) heißt es: „Deutschland ist als Standort für die Durchführung klinischer Prüfungen im Prinzip gut aufgestellt.“ Insbesondere die Förderprogramme des BMBF zum Aufbau von Koordinierungszentren für Klinische Studien (KKS) und anschließend zur Förderung Klinischer Studienzentren hätten die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt. Deutschland sei bei klinischen Studien Nummer eins in Europa und Nummer zwei weltweit, hinter den USA.

Laut Rolf Hömke vom VFA bezieht sich dies aber auf industriefinanzierte klinische Studien. Gezählt wurde, an wie viel eingetragenen Studien 2012 deutsche Einrichtungen beteiligt waren. „In der Tat ist es aber so, dass sich ein anderes Bild ergeben würde, wenn es um Studien geht, bei denen der Leiter aus Deutschland kommt oder die von Deutschland aus initiiert wurden“, sagt Hömke. Dazu lägen keine Zahlen vor.

Antes sagt bei Vorträgen gerne, dass Deutschland praktisch null zum globalen Wissenspool der Ergebnisse aus klinischen Studien beitrage. „Da gibt‘s dann große Empörung.“ Ein Team um Antes hatte analysiert, welche Studien in 54 Berichte zur Medizintechnik-Folgenabschätzung einflossen. Die Berichte wurden von 2006 bis 2010 vom Kölner Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erstellt. Wie die Forscher im Fachjournal „PLOS One“ berichten, kamen 27 Prozent der Studien aus den USA, 18 Prozent waren multinational, sieben Prozent stammten aus Großbritannien und fünf Prozent aus Deutschland. Bezog man die Größe der Bevölkerung eines Landes oder die Ausgaben für das Gesundheitswesen mit ein, fielen Deutschland und die USA ab – und nordische Länder holten auf.

Die überwiegende Mehrheit klinischer Studien stammt von der Industrie. Kritiker monieren Profitorientierung und fordern mehr unabhängige Forschung. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und das BMBF hatten vor gut zehn Jahren ein gemeinsames Programm gestartet und jährlich je 15 Millionen Euro für klinische Studien bereitgestellt. In dem Programm seien etwa 150 Studien begonnen und schätzungsweise 20 abgeschlossen worden, sagt Frank Wissing, Programmdirektor für Lebenswissenschaften in der DFG-Geschäftsstelle in Bonn.

„Anfangs kamen nicht selten Vorschläge, die nur sehr wenig evidenzbasiert waren. Das hat sich im Laufe der Zeit verbessert.“ Eine Schwierigkeit der Zentren sei offenbar, genug Patienten zu rekrutieren. „Das scheint in Deutschland schwieriger als beispielsweise in den USA zu sein und mag an unserem abgesicherten Gesundheitssystem liegen.“

Oft decken sich die Interessen der Wissenschaft auch nicht mit dem klinischen Bedarf, etwa zum Thema Inkontinenz bei älteren Männern. „Das mag für klinische Forscher vielleicht kein besonders interessantes wissenschaftliches Thema sein“, sagt Wissing. „In der Bevölkerung und bei den behandelnden Ärzten gibt es dagegen großes Interesse an neuen Erkenntnissen und Fortschritten.“ Ärzte hätten vielleicht nicht die Kompetenz, Studien dazu zu planen. „Deshalb können gezielte Programme zur Identifikation und Förderung solcher Themen sinnvoll sein.“

Doch die bereitgestellten je 15 Millionen Euro jährlich sind für klinische Studien eher eine kleine Summe. Die verschiedenen Phasen bei der Entwicklung eines Medikaments kosten ein Vielfaches. Aus Sicht der DFG sollten sich in Deutschland mehr Akteure an Studien beteiligen. „Auch das Bundesgesundheitsministerium müsste einsteigen, ebenso die Krankenkassen, um mehr Evidenz für Entscheidungen im Gesundheitswesen zu erzeugen“, sagt Wissing.