In Hamburg wachsen inzwischen wieder 240 Arten. Allerdings beschränkt sich die Erholung auf Vertreter, die ein großes Nährstoffangebot mögen

Hamburg. Mit der besseren Luftqualität kommen die Flechten zurück nach Hamburg. Die Mischwesen aus Pilz und Alge reagierten im 20. Jahrhundert besonders empfindlich auf den sauren Regen, der sich aus dem Schadstoff Schwefeldioxid bildete. In den 1950er- und 1960er-Jahren vertrugen nur einige wenige Arten die dicke Luft der Hamburger Innenstadt. Zum Stadtrand hin wuchs die Vielfalt auf vielleicht einige Dutzend Arten; Genaueres lässt sich mangels Daten nicht sagen. Inzwischen besiedeln wieder um die 240 Flechtenarten Baumrinden und Dächer, Betonsteine und Hauswände der Stadt. Das zeigt eine Artenliste, die Dr. Tassilo Feuerer und Dr. Matthias Schultz vom Biozentrum Klein Flottbek aufgestellt haben und der Botanische Verein jetzt veröffentlicht hat.

Flechten sind Indikatoren für Luftverschmutzung. Sie reagieren besonders empfindlich, denn sie nehmen Wasser direkt aus der Luft auf und sind den darin enthaltenen Schadstoffen schutzlos ausgeliefert. „Vor allem Schwefeldioxid (SO2), das sich im Regenwasser unter anderem zu Schwefelsäure löst, tötet sie ab“, sagt Matthias Schultz. Strauch- und Bartflechten, die durch ihren aufgefächerten, einige Zentimeter in die Luft hineinragenden Wuchs besonders viel Kontakt mit den Schadstoffen hatten, waren Mitte des 20. Jahrhunderts in Hamburg kaum noch vertreten. Nur einige Überlebenskünstler wie die Krustenflechte Lecanora conizaeoides, deren Verbreitung für diese Zeit dokumentiert ist, hielten den Bedingungen stand.

Vor 50 Jahren waren die Stämme der Straßenbäume in der City flechtenfrei oder allenfalls nur fünf bis zehn Prozent ihrer Oberfläche mit der widerstandskräftigen Krustenflechte bedeckt. In Reinluftgebieten und an optimalen Standorten seien die Stämme oft komplett, also zu 100 Prozent, mit Flechten bewachsen, sagt Schultz.

Inzwischen sind die Mischpflanzen wieder zahlreich zu sehen, nicht nur an Bäumen, auch auf Hausdächern, Gehwegen und vielen anderen Orten. „Es gibt zweifelsohne eine Erholung der Flechtenbestände in Hamburg, aber diese Erholung verläuft einseitig“, sagt der Biologe. Wie in der übrigen Pflanzenwelt profitieren vor allem Arten, die ein großes Nährstoffangebot mögen. Hungerkünstler haben dagegen das Nachsehen. Denn heute dominante Luftschadstoffe wirken als Dünger.

Das in der Landwirtschaft freigesetzte Ammonium sowie Stickoxide aus Autoabgasen und Industrieschloten enthalten Stickstoff, einen Pflanzennährstoff. Schultz: „Wenn wir heute Straßenbäume sehen, die stark mit Flechten bewachsen sind, dann handelt es sich überwiegend um nährstoffliebende Arten. Der SO2-Gehalt der Luft ist so stark zurückgegangen, dass sie mit der einstmals tödlichen Schwefelsäure keine Probleme mehr haben.“ Im Gegenteil: Staub und Ammonium neutralisieren zum Beispiel Granitgestein, das von Natur aus ein eher saures Milieu bietet, so stark, dass dort inzwischen Arten siedeln können, die eigentlich basisches Kalkgestein bevorzugen.

Eine Spezialität bildet die Flechte Xanthoria elegans, die Dachpfannen besiedelt. Eigentlich bewächst die Flechte gut gedüngte Felsenabschnitte, etwa unterhalb von Vogelsitzplätzen im Gebirge. „Die Nährstoffversorgung aus der Stadtluft reicht aus, um ihren hohen Bedarf zu decken. Gleichzeitig fließt das Wasser von Schrägdächern schnell ab, sodass die Umgebung nicht allzu feucht ist. Solche Bedingungen entsprechen denen am natürlichen Standort der Flechte gut“, erläutert Schultz.

Dass die Hamburger Flechtenwelt längst noch nicht wieder heil ist, lässt sich daran ablesen, dass von den 339 aufgelisteten Arten etwa 100 weiterhin als verschollen gelten. Und unter den aktuell nachgewiesenen Flechten gibt es viele gefährdete Spezies. So sind die typischen Waldarten nach wie vor rar. Sie sind an die nährstoffarmen Verhältnisse eines Naturwaldes angepasst und kommen mit dem Überangebot nicht klar. „Nur im Inneren großer Waldgebiete sind die empfindlichen Flechten noch zu finden“, sagt Schultz.

Während sich vor 50 Jahren die SO2-Emissionen von Kraftwerken und Industriebetrieben in deren Umkreisen anhand der (fehlenden) Flechten ablesen ließen, ist das Bild aufgrund der diffusen Stickstoffbelastungen heute nicht mehr so eindeutig. Dennoch ließen sich Muster erkennen, sagt Schultz. Wenn er durch die Stadt geht, hat er natürlich ein Auge für seine Flechten. Dabei entdeckt er mit zunehmender Entfernung von viel befahrenen Straßen vermehrt empfindliche Arten, die hohe Stickstoffbelastung nicht vertragen.

„Wir haben hier ein biologisches Messsystem, das ständig und flächendeckend zur Verfügung steht“, sagt Schultz. „Flechten bilden die mittlere Schadstoffbelastung der jüngsten fünf bis zehn Jahre ab. So lässt sich an jungen Bartflechten, die hier und dort am Stadtrand an alten Bäumen wachsen, ablesen, dass sich dort die Luftgüte deutlich verbessert hat. “ Und auch bei manchen verschollenen Arten gibt es Hoffnung auf ein Comeback: „In Norderstedt habe ich gerade einen großen Bestand einer richtig seltenen Art entdeckt, der in Hamburg noch als ausgestorben gilt. Bis zur Stadtgrenze sind es aber nur einige Hundert Meter.“

Bis die Luftqualität der Stadt anhand der Flechten gemessen wird, ist es jedoch noch ein weiter Weg. Denn anders als bei Blütenpflanzen oder Vögeln gibt es nur wenige Experten, die Flechtenarten erkennen und kartieren können. Feuerer und Schultz hoffen auf Unterstützung und schlagen vor, zunächst artenreichere Flächen wie Naturschutzgebiete, Friedhöfe und Parks sowie die Elbufer zu inspizieren. In der City sollten die Vorkommen stichprobenartig in Bereichen mit unterschiedlicher Luftqualität erhoben werden. Die von der Umweltbehörde geförderte Artenliste bietet dafür nun die Basis.