Die Industrie nennt mehrere Gründe für die Lieferengpässe. Doch darüber, wie das Problem gelöst werden kann, gibt es unterschiedliche Meinungen

Hamburg. Lieferengpässe von Arzneimitteln sorgen für Unruhe bei Apothekern und Patienten. Schilddrüsenmedikamente, Blutdruckmittel, und einige Antibiotika zählen zu den Medikamenten, für die es zurzeit auch in Hamburger Apotheken zu Lieferengpässen kommt. „Im Moment sind es zehn Wirkstoffe, bei denen es Schwierigkeiten gibt“, sagt Kai-Peter Siemsen, Präsident der Hamburger Apothekerkammer.

Auch in Kliniken machen sich die Probleme bemerkbar. „Insgesamt hat sich die Verfügbarkeit von Medikamenten in den vergangenen Jahren drastisch verschlechtert“, sagt Dr. Michael Baehr, Leiter der Krankenhausapotheke im Universitätsklinikum Eppendorf. „Wir bekommen zwar immer noch alle Medikamente, die wir für unsere Patienten brauchen, aber die Beschaffung nimmt heute sehr viel mehr Zeit und vertragliche Absicherungen in Anspruch als früher.“

Einen Lieferengpass sieht das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) dann als gegeben, wenn es für ein Medikament „eine über voraussichtlich zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung“ einer Auslieferung“ im üblichen Umfang“ gibt „oder eine deutlich vermehrte Nachfrage, der nicht angemessen nachgekommen werden kann. Auf seine Homepage (www.bfarm.de) hat das BfArM eine Übersicht von 14 Arzneimitteln gestellt, für die es zurzeit Lieferengpässe gibt. In diese Liste werden aber nur verschreibungspflichtige Medikamente aufgenommen, die vor allem zur Behandlung von lebensbedrohlichen oder schweren Erkrankungen bestimmt sind und für die keine Alternativpräparate verfügbar sind. Als häufigster Grund für die Lieferprobleme werden „Probleme bei der Herstellung“ genannt.

Eine Ursache für diese Engpässe könnten, so Siemsen, die Rabattverträge zwischen den Krankenkassen und den Arzneimittelherstellern sein, durch die die Kosten für die Medikamente niedrig gehalten würden. „Dadurch verliert die Industrie Milliardenbeträge, die an anderer Stelle wieder eingespart werden. Die Unternehmen reduzieren ihre Lagerkapazitäten auf ein Minimum, und Wirkstoffe werden nicht mehr in Europa, sondern zu wesentlich geringeren Kosten in asiatischen Ländern produziert“, sagt Siemsen. Bei Produktionsausfällen dauere es dann eine Zeit, bis die Mittel wieder in ausreichendem Maße verfügbar seien. Hinzu kommt, so der Apotheker, dass ein Unternehmen oft den Wirkstoff für mehrere Pharmafirmen in Deutschland produziert – das kann fatale Folgen haben. „Kommt es dann zu einem Produktionsausfall, sind gleich mehrere Alternativpräparate gleichzeitig nicht verfügbar“, sagt Siemsen.

Auch der Verband forschender Pharma-Unternehmen (vfa) teilt mit, dass Lieferschwierigkeiten eines Herstellers zwar von anderen Herstellern von wirkstoffgleichen Arzneimitteln ausgeglichen werden könnten, dass dies aber nicht immer gelinge. Das liege auch am teilweise komplizierten Produktionsprozess, der manchmal Monate dauere. „Ein Hersteller kann deshalb nicht quasi ,auf Zuruf‘ seine Produktionsmenge“ vergrößern. Dies gelte in besonderem Maße für Impfstoffe, gentechnische Produkte oder Zytostatika für die Krebsbehandlung.

Darüber, wie das Problem zu lösen ist, gibt es unterschiedliche Vorstellungen. So fordert der vfa, dass Verträge und Vergütungen mit Krankenkassen so gestaltet sein sollten, dass den Unternehmen noch Spielraum für Lager- und Reservekapazitäten bleibe, und bei Impfstoffen auf Exklusivverträge mit einzelnen Hersteller verzichtet werde. Wohin diese Exklusivverträge führen können, zeigte sich 2012. Damals hatte die Pharmafirma Novartis die Grippeimpfstoff-Ausschreibung der gesetzlichen Krankenkassen gewonnen, konnte dann aber den Impfstoff nicht rechtzeitig zum Beginn der Impfsaison im Herbst des Jahres liefern. „Wenn man diese Ausschreibungen aufrechterhalten will, sollte man zumindest mehrere Hersteller mit einbeziehen, damit es nicht wieder zu einer ähnlichen Situation kommt“, sagt Siemsen.

Der vfa denkt auch über neue Formen der Zusammenarbeit mit den Krankenkassen nach. Denkbar seien individuelle Kooperationsmaßnahmen zwischen Krankenkassen und einzelnen Herstellern, ohne damit einen exklusiven Belieferungsanspruch zu schaffen. „Eine Kooperationsvereinbarung zwischen Krankenkasse und Hersteller könnte beispielsweise einen Bonus für eine über das Normalmaß hinausgehende Vorratshaltung oder für eine größere Produktionskapazität enthalten. Ähnliches empfiehlt auch die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA für das dortige Gesundheitssystem“, sagt Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung/Entwicklung/Innovation des vfa.

Apotheker Siemsen setzt auf gesetzliche Regelungen. Er spricht sich zwar für die Dämpfung der Arzneimittelkosten durch die Rabattverträge aus: „Aber wenn die Sparmaßnahmen dazu führen, dass die Versorgung der Patienten nicht mehr sichergestellt ist, ist auch die Politik gefragt. Dann brauchen wir neue Regelungen, um das Problem in den Griff zu bekommen.“

Die Krankenkassen sehen hingegen nicht die Rabattverträge als Ursache: „Meist handelt es sich nur um kurzzeitige Lieferengpässe, deren Ursache auch in den zunehmend globalen Beschaffungsmärkten zu suchen ist. Ein zeitgemäßes Konzept der Vorratshaltung würde hier Abhilfe schaffen“, sagt Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied der AOK Rheinland/Hamburg. Wichtig für den Patienten sei: „Nicht jeder Lieferengpass verursacht auch einen Versorgungsengpass, da nicht immer alle Packungsgrößen, Darreichungsformen oder Wirkstärken betroffen sind. Wenn ein Hersteller einmal nicht liefern kann, darf die Apotheke ein anderes Präparat abgeben oder nach Rücksprache mit dem Arzt auf einen anderen Wirkstoff ausweichen.“ Bei fast allen Medikamenten, für die derzeit ein Lieferengpass bestehe, würden die von Krankenkassen geschlossenen Rabattverträge überhaupt keine Rolle spielen, sagt Mohrmann.