Hirnforscher rund um den Globus planen in den kommenden Jahren, das Geheimnis jenes überaus komplexen Organs zu ergründen, dem wir letztlich all das verdanken, was uns zu Menschen macht.

Berlin. Man kann es schon als wissenschaftlichen Großangriff bezeichnen, was die Hirnforscher rund um den Globus in den kommenden Jahren planen. Sie wollen das Geheimnis jenes überaus komplexen Organs lüften, dem wir letztlich all das verdanken, was uns zu Menschen macht – Denken, Fühlen, Lernen, Erinnern, Lieben, Bewusstsein. Ein Ziel lautet: Maschinen mit der Leistungsfähigkeit von Hirnen konstruieren.

Den Auftakt für eine neue Dekade der Hirnforschung gab 2013 die EU. Sie stellte die unglaubliche Summe von einer Milliarde Euro Forschungsmitteln in Aussicht, um menschliche Gehirne mithilfe von Supercomputern zu simulieren und damit deren Leistungsfähigkeit letztlich auf technische Systeme zu übertragen. Angesichts dieses ehrgeizigen „Brain Projects“ wollte man jenseits des Atlantiks nicht nachstehen. US-Präsident Barack Obama rief die „Brain Initiative“ mit einem nahezu ebenso hohem Fördervolumen aus.

Auch Israel ist in der Hirnforschung besonders aktiv. In Jerusalem wird gerade ein neues Institut für Hirnforschung gebaut, auf dem Campus der Hebrew-Universität. Auf dem „Berlin Brain Forum“ berichtete in der vergangenen Woche der renommierte israelische Hirnforscher Prof. Idan Segev, der auch am europäischen Brain Project beteiligt ist, von den großen Plänen in seiner Heimat. In drei Jahren soll das neue Institut mit 30 Labors fertig gestellt sein. Schon heute arbeiten an der Hebrew Universität rund einhundert Wissenschaftler auf diesem Gebiet.

„Wir erleben einen historischen Moment der Hirnforschung“, sagte Segev und erläuterte, was man von der Simulation eines menschlichen Gehirns im Computer lernen könne. Segev hofft, mithilfe solcher Modelle neurologische Erkrankungen wie Parkinson, Epilepsie und vielleicht sogar Alzheimer besser verstehen und dann auch therapieren zu können. Bei Parkinsonpatienten sei offensichtlich, dass in den Gehirnen Nervensignale falsch codiert werden.

Jeder Zelltyp habe eine eigene Charakteristik der elektrischen Aktivität, erklärt er und vergleicht dies mit verschiedenen Musikinstrumenten die zusammenspielen. Seine mathematischen Modelle beschreiben diese sehr unterschiedlichen Schwingungen. Theorie und Experiment passen dabei offenbar gut zusammen, wie Segev mit bunten, sich aneinander anschmiegenden Kurven belegt. „Verstehen heißt modellieren können“, sagt Segev.

Doch die elektrischen Signale zwischen den Nervenzellen, die sie über sogenannte Synapsen austauschen, sind nur ein Teil des Systems. Um das Gehirn als Ganzes zu verstehen, ist weit mehr nötig. Es beginnt auf der Ebene der Zellen, mit den in einer einzigen Nervenzelle (Neuron) sich abspielenden biochemischen Prozessen. Hier interagieren 500.000 verschiedene Biomoleküle. Dann gibt es die Netzwerkebene: In jedem Kubikmillimeter Gehirn befinden sich rund 10.000 Zellen mit etwa 100 Millionen Synapsen. Die Struktur dieses neuronalen Netzwerkes ist in jedem Gehirnareal anders. Und erst die Summe der Netzwerke und deren Zusammenspiel ergibt das Gehirn mit seinen fantastischen Möglichkeiten.

Moritz Helmstaedter vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bezeichnet die Erforschung dieser Strukturen als „Connectomics“. Sein Ziel ist gleichsam eine Straßenkarte des menschlichen Gehirns. Gerade hier haben neue Technologien in den vergangenen Jahren große Fortschritte ermöglicht. So kann Hirngewebe Scheibchen für Scheibchen mit einem Elektronenmikroskop aufgenommen und daraus ein räumliches Bild zusammengesetzt werden.

Einen Durchbruch gab es im Jahr 2013, als der US-Forscher Kwanghun Chung und Kollegen im Fachmagazin „Nature“ eine neue 3-D-Methode zur Darstellung von Nervennetzwerken präsentierten, die sie „Clarity“ nannten. Damit wird deren Kartierung künftig sehr viel einfacher und präziser möglich sein. Das ist eine wichtige Voraussetzung für das große Ziel – die Simulation des gesamten Gehirns. Die bisherige Kartierung hat ergeben, dass es rund 2000 „Autobahnen“ und 42.000 „Bundesstraßen“ im Gehirn gibt.

Die neuen Beobachtungsmethoden erlauben auch, zeitliche Prozesse im Gehirn abzubilden. Die ohnehin komplexe Struktur eines Hirns ist ja keinesfalls unveränderlich. Ständig werden neue Verschaltungen der Nervenzellen gebildet, neuronale Stammzellen ins Netz integriert und gleichsam angelernt. Helmstaedter verwendet gar den Begriff der „tanzenden Neurone“, die sich im Netz ständig verändern und eine hohe Dynamik zeigen. Dies macht die angestrebte Simulation aller Aspekte eines Gehirns noch schwieriger.

Mit den heute verfügbaren Supercomputern können bereits rund 100 Millionen Neuronen und ihre Verbindungen nachempfunden werden. Ein solches Nervennetz entspricht ungefähr der Größe eines Mausgehirns – bis zu einem menschlichen Gehirn mit seinen 100 Milliarden Neuronen und tausendmal mehr Synapsen ist es noch ein weiter Weg. Gleichwohl sind sich viele Experten darin einig, dass bis 2020 sowohl die entsprechende Computerleistung als auch das notwendige Modellverständnis erreicht werden. „In weniger als zehn Jahren“, sagt Segev, „werden wir ein Computermodell haben, das sich ziemlich ähnlich wie normales Hirngewebe verhält.“

Damit wollen die Forscher den Ursachen diverser neurologischer Störungen auf die Spur kommen. Doch auch Segev muss eingestehen, dass es die großen Konzepte noch nicht gibt: „Es fehlt der große theoretische Rahmen.“

Der größte Teil der Fördergelder fließt indes in die Entwicklung von leistungsfähigeren und energieeffizienteren Supercomputern. Wenn mit ihrer Hilfe die Simulation des menschlichen Gehirns gelingen sollte, könnten davon am Ende auch die Computertechnik profitieren: Ein menschliches Gehirn hat bei einer Leistungsaufnahme von nur 20 Watt eine Rechenleistung im Petaflop-Bereich (eine Billiarde Rechenoperationen pro Sekunde). Mit den zu erwartenden Erkenntnissen der Hirnforschung dürfte sich die Leistungsfähigkeit der heutigen Supercomputer noch einmal um einen Faktor 20.000 steigern lassen, vermutet Segev.