Aus Stammzellen erzeugte Modelle können Nebenwirkungen von Arzneien zeigen – und Studien ohne Tierversuche ermöglichen. Der Bedarf an solchen Herzmodellen im Labor ist groß.

Berlin. Herzrhythmusstörungen gehören zu den tückischen Nebenwirkungen von Medikamenten. Häufig werden sie erst erkannt, nachdem das Arzneimittel millionenfach verschrieben wurde. Das beschäftigte Stammzellforscher an der Uniklinik Leiden: Die Niederländer haben einen Test mit menschlichen Herzzellen entwickelt, die sie aus Stammzellen erzeugen. „Wir können damit die Risiken eines Medikaments bereits erkennen, noch bevor es in klinische Studien geht“, berichtete Christine Mummery bei der Jahrestagung des Deutschen Netzwerkes Stammzellforschung (GSCN) in Berlin.

Der Bedarf an solchen Herzmodellen im Labor ist groß. Das unerwartete Auftreten von Herzrhythmusstörungen führt häufig zum Abbruch klinischer Studien oder zum Rückruf von Arzneimitteln. Der Pharmahersteller Merck musste im September 2004 sein Schmerzmittel Vioxx nach fünf Jahren vom Markt nehmen, weil es vermutlich das Risiko für Herzkrankheiten erhöht. Allein in Deutschland, so schätzt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (Iqwig), sollen 7000 Menschen durch die Einnahme von Vioxx erkrankt oder verstorben sein.

Die Pharmafirmen kosten solche Rücknahmen Milliarden. Mehr als 20 Präparate verloren seit 1990 ihre Zulassung wegen unerwarteter Herzprobleme bei den Patienten. Die US-amerikanische Medikamentenaufsicht FDA hat bereits reagiert und bewertete im Juli die Gefahr durch Herzrhythmusstörungen neu. Ab Sommer 2016 sollen in den USA strengere Regeln gelten: Zelltests im Labor werden dann vor dem klinischen Einsatz zur Pflicht.

Das neue Verfahren hat seinen Härtetest bereits bestanden. Das Ergebnis einer Blindstudie an der Universität Leiden verwunderte selbst erfahrene Pharmahersteller. „Wir konnten aus uns unbekannten Substanzen genau diejenigen als gefährlich identifizieren, die auch als Medikament vom Markt genommen werden mussten“, berichtet Christine Mummery. Auch Vioxx verhielt sich auffällig. Die Pharmafirmen hatten der Uniklinik die 20 Arzneistoffe überlassen, bei denen der millionenfache Einsatz am Patienten die Gefahr der Herzrhythmusstörungen offenbart hatte – in 18 Fällen lieferten die EKG-Messungen in der Petrischale sofort das richtige Ergebnis; für die beiden anderen musste die Methode etwas verändert werden.

Herzmuskelzellen lassen sich relativ einfach aus sogenannten induzierten Pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) erzeugen (siehe Infokasten). Die so hergestellten Herzmuskelzellen beginnen im Labor sogar selbst zu pulsieren. Die elektrischen Impulse dieser Zellen messen die Leidener Forscher mit einem Trick: „Wir haben die Herzzellen auf einem Chip platziert. Dieser liefert Kurven, die sehr gut dem menschlichen EKG entsprechen“, erläutert Mummery. Wenn die Herzmuskelzellen dann mit Arzneistoffen konfrontiert würden, lasse sich ihre Reaktion oft direkt ablesen.

„Menschliche Zellen sind besser als Experimente mit Mäusen“, sagt Mummery. Diese Aussage gelte nicht generell für Tierversuche zur Medikamentenverträglichkeit, aber für die Untersuchung von Nebenwirkungen am Herzen. Eigentlich nicht überraschend zeigen die Herzen von Maus und Mensch doch nur wenig Übereinstimmung: Die Herzfrequenz der Nager ist sechsmal höher, dafür der Blutdruck geringer. Herzrhythmusstörungen stünden häufig im Zusammenhang mit Fehlfunktionen an den Ionenkanälen, die die Weiterleitung von Signalen regeln, sagt Mummery. Und es sei schon lange bekannt, dass die Ionenkanäle der Maus ganz anders funktionieren als die des Menschen.

„Der Einsatz von Stammzellen in der Wirkstoffentwicklung und -testung ist ein ganz neues Gebiet“, sagt Neurowissenschaftler Oliver Brüstle, Präsident des deutschen Stammzellnetzwerks (GSCN). Er fordert Industrie und Forschung zur besseren Zusammenarbeit auf. „Auch für die Leber oder das Nervensystem können menschliche Zellen, die aus Stammzellen erzeugt wurden, bessere Voraussagen über die Wirksamkeit von Medikamenten ermöglichen oder Aufschluss über die Entstehung von Krankheiten geben“, sagt Oliver Brüstle, der in Bonn die Wirksamkeit von Alzheimer-Medikamenten an aus Stammzellen abgeleiteten menschlichen Nervenzellen untersucht. „Gerade Herzleiden und neurodegenerative Erkrankungen lassen sich an Tiermodellen oder Zellen tierischen Ursprungs nur unzureichend simulieren – mit der Folge, dass in solchen Systemen entwickelte Medikamente oft in der Klinik versagen“, so Brüstle.

Die in Leiden entwickelte Methode verwendet eine Größe, die gute Ärzte bei der Auswertung eines EKG schon länger nutzen: das sogenannte QT-Intervall. Es gehört zum EKG-Bild und beschreibt vereinfacht die Zeit, in der sich der Herzmuskel zusammenzieht und dann Blut in den Körper pumpt. Dauert diese Phase zu lang, kommt es zu Rhythmusstörungen. Der negative Einfluss von manchen Medikamenten auf das QT-Intervall ist seit Jahren bekannt. Die Beipackzettel von einigen Hundert Arzneimitteln tragen entsprechende Warnungen. Künftig lässt sich die Verlängerung des Intervalls womöglich exakt messen. Damit lasse sich das Risiko für Patienten einfacher und besser bewerten, sagt Mummery.

Der Einsatz von Stammzellen erlaubt sogar Arzneistudien, die mit Tieren nicht machbar sind. Denn Herzmuskel- oder Nervenzellen können nicht nur aus embryonalen Stammzellen gewonnen werden, sondern auch aus Hautzellen von Patienten. Die Forscher löschen das Gedächtnis dieser Hautzellen und verwandeln sie in einen anderen Zelltyp.

Das öffnet die Tür zur personalisierten Medizin. „Wir wollen Brustkrebspatientinnen helfen“, sagt Christine Mummery. „Viele von ihnen leiden nach der Therapie unter Herzproblemen.“ Warum das so ist, ist nicht ganz klar. „Wir gehen davon aus, dass die Frauen je nach genetischer Disposition unterschiedlich auf Medikamente reagieren“, sagt Mummery. Ihr Konzept: Die durch Stammzelltechnik aus der Haut erzeugten Herzzellen behalten das persönliche genetische Profil der Patientin. Mit ihnen könnte ganz individuell die Anfälligkeit des Herzens gegen die Arzneimittel während der Brustkrebstherapie untersucht werden.

Auch Neurowissenschaftler Oliver Brüstle sieht in diesen patientenspezifischen Zellen großes Potenzial. „Mit dieser Technik kultivieren wir in großen Mengen Nervenzellen von Alzheimer-Patienten und untersuchen deren Funktionseinschränkungen im Lebendzustand. Bisher waren solche Untersuchungen nur an Zellproben möglich, die nach dem Tod über eine Autopsie gewonnen wurden“, sagt Brüstle.

Der Einsatz in der Medikamentenentwicklung könnte die erste große medizinische Anwendung von Stammzellen werden. „Als ich angefangen habe, hatten wir noch ein ganz anderes Ziel. Wir wollten die bei einem Herzinfarkt abgestorbenen Zellen durch neue ersetzen“, sagt Christine Mummery. Doch diese einfach klingende Aufgabe sei viel komplizierter als angenommen.