Im Fernsehen und auf dem Buchmarkt feiern sie Erfolge. Dabei sieht ihr Alltag anders aus. Nicht immer ist es das sprichwörtliche Messer im Rücken.

Berlin/Hamburg. Gerichtsmediziner tummeln sich in allen Medien – im Fernsehen, im Kino und in Büchern. Ist ihr Auftritt dort der Wirklichkeit abgeschaut? Immerhin schalten bis zu zwölf Millionen Zuschauer ein, wenn im „Tatort“ aus Münster der ebenso von sich eingenommene wie feingeistige Karl-Friedrich Boerne (gespielt von Jan Josef Liefers) an der Seite von Kripomann Thiel (Axel Prahl) Mörder jagt. Der Berliner Gerichtsmediziner Michael Tsokos, Professor an der Humboldt-Universität, steht mit seinem Büchern über wahre Fälle der Forensik sogar in den Bestsellerlisten, ebenso der Kriminalbiologe Mark Bennecke, der mit populärwissenschaftlichen Büchern erfolgreich ist.

Aber wie sieht der Alltag in der Gerichtsmedizin aus? Zum Beispiel in der Lengsdorfer Chaussee 6 in Potsdam. Neun Ärzte arbeiten hier in der Rechtsmedizin, je zwei Gerichtsmediziner stehen immer für die Ermittler im Land Brandenburg bereit. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kann der Staatsanwalt anrufen. Weil eine Leiche gefunden wurde. Weil Polizei oder Angehörigen nicht klar ist, warum dieser Mensch gestorben ist. Dann gehen Dr. Jörg Semmler und sein Team an die Arbeit.

Mit den fernsehbekannten Helden hat der Potsdamer Gerichtsmediziner Dr. Jörg Semmler wenig gemein. „Ich fahre nicht dem Täter hinterher, verhafte niemanden und habe auch keine Waffe“, stellt er klar.

All das seien Aufgaben der Polizei. Er schult stattdessen den Nachwuchs und zeigt auch, wo: im Sektionssaal. Grüne Kacheln, grelles Licht, Meißel, Säge und Insektenspray für den Notfall liegen bereit. Hier können junge Mediziner zuschauen, selbst Hand anlegen, oder etwa das Geheimnis des Röntgenfotos aus seinem Büro erfahren.

Der Tote wurde an der Autobahn entdeckt, ein Opfer der organisierten Kriminalität. Vier Kugeln töteten den Mann, vier Einschüsse im Rücken ergab die Obduktion, doch nur drei Austrittstellen der Geschosse. Ein Mysterium. Erst die Röntgenaufnahme und Semmlers fachkundiger Blick entschlüsselten das Geheimnis: Die letzte Kugel, sie steckte verborgen im Schädel. Abgefeuert wurde der Schuss, als der Mann schon am Boden lag, so dass sich die Verlaufsbahn der Kugel änderte.

Solche Geschichten interessieren viele Menschen. Heute etwa ist eine 18-Jährige spontan vorbeigekommen. Sie will Rechtsmedizinerin werden, ein Praktikum ablegen. Was sie bekommt, ist zunächst ein „Schnuppertag“, wie ihn Semmler nennt. Der beginnt gleich mit einem Toten: Ein Leichenwagen fährt vor und bringt einen Mann, der bestattet werden soll. Noch ist die Todesursache offen. Der Notarzt hat das Feld auf dem Formular leer gelassen. Nun müssen die Kollegen in der Rechtsmedizin klären, ob Rolf H.’s Tod ein natürlicher war. Erst dann darf der Leichnam zur Bestattung freigegeben werden. Eine Routineuntersuchung. Jeder Handgriff der Beteiligten sitzt.

Schon liegt der etwa 70-Jährige nackt auf dem Stahltisch. Einer der Ärzte untersucht den ausgezehrten Körper, auf dessen Rückseite erste Totenflecken zu sehen sind. Beinah täglich erledigt auch Jörg Semmler solche Aufgaben. Etwa bei der vorgeschriebenen zweiten Leichenschau in den Krematorien. Bis zu 50 Tote sieht er dort pro Tag, schaut ein letztes Mal, bevor der Körper verbrannt wird, auf die angegebene Todesursache. Ziemlich oft, so sagt er, findet er Ungereimtheiten.

Nicht immer ist es das sprichwörtliche Messer im Rücken. Oft eher der Verdacht auf eine Berufskrankheit, bei der geprüft werden müsste, ob sie zum Tod beigetragen hat und den Angehörigen etwa Ansprüche auf eine Rente bescheren könnte. Oder eine Vernachlässigung eines Pflegebedürftigen, sei es im Heim oder in der Familie. Oft gebe er deshalb seine Einwilligung zur Kremierung nicht. „Da bin ich stur!“, sagt er, auch wenn das wenig ändere. Der Bestatter weiche dann, auch auf Druck der Angehörigen, ins Ausland aus. „Die verbrennen dann eben in Polen“, so Semmler schulterzuckend.

„Der Tod ist ein sicheres Geschäft“, sagt er sarkastisch. Viele würden daran verdienen, auch sein Institut. Etwa dank einer „Sonderzulage“ für die Arbeit an Leichen, die stark verwest seien. Das Geld lande aber in der Landeskasse, nicht bei denen, die, so Semmler, die „Drecksarbeit“ machen würden. Überhaupt, die Kosten. Knapp 500 Euro würden für eine Obduktion in der Gebührenordnung des Landes berechnet. De facto aber seien es 1200 Euro, die für die Öffnung des Leichnams anfielen.

Die Differenz zahlt der Steuerzahler. Für sein Institut ergebe sich so Jahr für Jahr ein Fehlbeitrag von 1,3 Millionen Euro. Deshalb kämpft sein kleines Institut nicht zum ersten Mal gegen seine Abwicklung. Semmler steht an vorderster Front, er hat das Haus 1984 mitgegründet, stetig ausgebaut. Es ist auch sein Lebenswerk, das er verteidigt.

Die Faszination der Forensik habe ihn früh erwischt, erzählt er. Die Bandbreite der Aufgaben! Und die Nähe zum Leben – auch wenn dessen Abgründe nicht immer leicht zu ertragen seien. Wie zum Beweis führt er in den Keller des Hauses, zeigt Präparate und Beweismittel, die sich in Tüten, Pappkartons oder auf Regalbrettern stapeln.

Dort etwa, im Glasschrank, liegen die Knochen von Dana Franzke. Die Prostituierte war eines der Opfer des „Havel-Rippers“, wie ihn die Boulevardpresse in den 90er-Jahren nannte. Das weiße Skelett ist künstlich mit grellrosa Gummiteilen geflickt, sie markieren, wo der Mörder die Leiche in Stücke schnitt. Ebenfalls im Hause, von Semmler selbst ausgewertet: das Video, auf dem der Täter, der Arzt Gerd Wenzinger, sich selbst beim Zerstückeln der Toten filmte. Sind es Fälle wie dieser, die ihn am meisten berührt haben? Nein, sagt Semmler. Nahe gegangen sei ihm ein anderer Fall, so der Vater von drei mittlerweile erwachsenen Söhnen.

Dann erzählt er vom Tod der damals zwölf Jahre alten Ulrike B. aus Eberswalde. Das Kind verschwand 2001 mit seinem Fahrrad auf dem Weg zum Handballtraining. Knapp zwei Wochen später wurde eine Leiche im Wald gefunden. Jörg Semmler machte sich mit der Polizei auf den Weg. Im Autoradio hörte er den damaligen Innensenator Jörg Schönbohm über die mögliche Todesursache des Kindes, so es denn Ulrike sei, spekulieren. Der Politiker erwog auch einen Verkehrsunfall.

Der 62-Jährige bläst Rauch in die Luft. „Es war ein Sexualmord, das habe ich sofort gesehen“, sagt er dann. Noch heute bekomme er die Bilder, die Geräusche nicht aus dem Kopf. Das Knattern der Rotoren etwa, weil drei Hubschrauber über der Fundstelle kreisten. Darin die Reporter, die die Suche, die unter großer Anteilnahme der Bevölkerung geführt wurde, bis zuletzt aggressiv begleiteten.

Hat sein Beruf das Familienleben, seinen Blick aufs Leben beeinflusst? „Das Wissen über den Tod ist doch selbst eine Lebenswissenschaft“, sagt Semmler, der sich nach seinem Tod übrigens nicht obduzieren lassen will.

Im Gebäude klingelt das Telefon, die Sekretärin ruft nach dem Chef, es ist der Staatsanwalt. Der Leichenwagen ist weg, ebenso die Schnupperpraktikantin. Die Arbeit geht weiter. Jörg Semmler sieht erfreut aus.

Selbstmord, Mord, Totschlag – das sind die Fragen, die im Institut für Rechtsmedizin geklärt werden. Es sind wichtige Fragen. Sie rühren an die Grundlagen unseres Rechtssystems, ebenso wie unser Gerechtigkeitsempfinden, das da lautet, dass ein Verbrechen bestraft werden sollte.

Doch dazu muss es überhaupt erst entdeckt werden. Die Autorin Sabine Rückert hat in dem Buch „Tote haben keine Lobby“ schon im Jahr 2000 auf das wachsende Missverhältnis zwischen vermuteten Tötungsdelikten und aufgeklärten Taten hingewiesen.

Bis zu 20.000 Morde, so ihre These, werden in Deutschland jedes Jahr nicht entdeckt. Die Zahl der Morde ist seit Jahren rückläufig. 2012 etwa lag sie bei knapp über 800. Die vermutet hohe Dunkelziffer liegt, so schreibt Rückert, daran, dass so mancher Allgemeinmediziner bei der Todesursache nicht so genau hinschaue. Aber auch Sparzwänge seien schuld, die Kosten für Obduktion und Anreise würden gescheut.

Auch Semmler muss um seinen Arbeitsplatz bangen. Die Enquetekommission des Brandenburger Landtags zur Reform der Verwaltung hat empfohlen, sein Institut für Rechtsmedizin inklusive der Zweigstelle Frankfurt/Oder aufzulösen. 24 Angestellte arbeiten dort. 600 Obduktionen werden im Jahr von ihnen vorgenommen, außerdem 4000 Analysen, die den Alkoholgehalt im Blut bestimmen, 1500 Drogentests sowie DNA- und Spuren-Untersuchungen, Gesichtsrekonstruktionen aus Schädelfragmenten oder von Auto-Blitzerbildern, sowie Blutanalysen für Vaterschaftstests.

„Die Leichenschau in Deutschland, das ist ein schlimmes Kapitel“, sagt Semmler. Tote würden generell zu schnell für die Bestattung freigegeben. „Was da alles durchgeht“, sagt er. Der Politik sei das egal – sinkende Mordzahlen ließen sich schließlich unter „guten Nachrichten“ abheften.