Fast ein Drittel der deutschen Jugendlichen ist an Cybermobbing beteiligt. Ein Kongress in Berlin sucht jetzt nach Lösungen. Das Abendblatt sprach mit Sozialpsychologin Catarina Katzer.

Berlin. Der Tod der zwölfjährigen Schülerin Amanda Todd aus Kanada bewegte im vergangenen Jahr die Welt. Das Mädchen hatte im Chat vor einem Fremden mithilfe einer Webcam ihren Oberkörper entblößt und wurde dann erpresst. Der Mann verbreitete das Bild im Internet, woraufhin Amanda in der Schule gemobbt wurde. Drei Jahre später nahm sie sich das Leben – in einem YouTube-Video berichtete sie zuvor mit handgeschriebenen Sätzen über ihr Martyrium. Weil diese Form des Mobbings auch in Deutschland zunimmt, findet am heutigen Mittwoch in Berlin der erste Internationale Cybermobbing Kongress unter Schirmherrschaft von Familienministerin Kristina Schröder statt. Die Sozialpsychologin Catarina Katzer vom Bündnis gegen Cybermobbing ist eine der Referenten. Sie gilt als eine der führenden Forscher in Europa zu dem Thema.

Hamburger Abendblatt: Wie verbreitet ist Cybermobbing in Deutschland?
Catarina Katzer: Rund 20 Prozent bis ein Drittel der Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahren in Deutschland sind in Cybermobbing involviert – als Täter oder Opfer. Unsere Studie vom Mai diesen Jahres hat zudem gezeigt, dass immer mehr Grundschüler von Cybermobbing betroffen sind. Das bestätigte auch unsere Lehrerbefragung.

Wer ist vor allem betroffen?
Katzer: Die größte Gruppe ist diejenige, die immer involviert ist – also sowohl im realen Leben in der Schule als auch im Internet. Das gilt für Opfer wie für Täter. Darüber hinaus gibt es eine Gruppe – etwa 24 bis 30 Prozent – die nur Täter oder Opfer im Internet sind.

Was weiß man über diese zweite Gruppe?
Katzer: Bei den Tätern handelt es sich oft um Jugendliche, die im normalen Leben unauffällig sind und das Netz als Spielwiese im scheinbaren Schutz der Anonymität nutzen, um zu testen, wie böse sie sein können. Bei den Opfern sind es oft Jugendliche, die aus Neugierde auf Hass- und Prügel-Webseiten landen und durch erste Kommentare dann plötzlich selbst zu Opfern werden. Auch bestimmte Verhaltensweisen unterstützen, dass manche Jugendliche eher zu Opfern werden.

Welche?
Katzer: Zum Beispiel, wenn man allzu freimütig einem großen Freundes,- Bekanntenkreis in sozialen Netzwerken mitteilt, dass man Liebeskummer oder sonstige private Probleme hat. Wir müssen Jugendlichen immer wieder klar machen, wie wichtig es ist, wem sie was im Internet von sich preisgeben.

Sind Mädchen gefährdeter, Opfer zu werden, als Jungen?
Katzer: Das lässt sich nicht so eindeutig sagen. Wir haben in unserer großen Studie festgestellt, dass eher mehr Mädchen als Jungen involviert sind. Ältere Studien zeigen dagegen meist, dass mehr Jungen Täter sind. Bei der Opferseite kann man oft gar keine signifikanten Unterschiede erkennen. Was man in jedem Fall sagen kann ist, dass der Anteil der Mädchen in den letzten Jahren gestiegen ist – auch unter den Tätern.

Wird in der realen Welt anders gemobbt als in der virtuellen?
Katzer: Mobbing im Internet ist subtiler, effektiver und manipulativer. Lügen, Gerüchte lassen sich schneller und gemeiner verbreiten und erreichen eine breitere Masse. Wenn jemand in der Klasse gehänselt wird oder Briefchen über jemanden verbreitet werden, bekommt das nur ein begrenzter Teil von Mitschülern mit. Im Internet verbreiten sich solche Lügen und Verleumdungen in Windeseile in alle möglichen Richtungen. Hinzu kommt, dass mit Hilfe von gefälschten Videos oder Photoshop schlimmste Verleumdungen mit scheinbaren Beweisbildern oder Videos gestützt werden. Alle, die dann ein Foto von einem Mädchen sehen, dass sich nackt zeigt, denken dann: ‚Warum stellt sie auch so etwas ins Netz?‘ Dabei ist es ein gefaktes Foto. In der realen Welt handelt es sich häufiger um physische Gewalt, durchaus auch um Erpressungen und Druck. Potenziert wird es, wenn beides zusammen kommt, also jemand verprügelt wird und dann mit einem von der Tat aufgenommenen Video im Internet zusätzlich verhöhnt und gequält wird.

Was kann man tun, um rechtzeitig zu erkennen, in welcher Notlage gemobbte Jugendliche sind?
Katzer: Viele Erwachsene, aber auch Freunde bekommen oft erst gar nicht mit, was da passiert. Gemobbt werden ist wahnsinnig peinlich, oft haben Jugendliche auch Angst, dass ihnen der Zugang zum Internet verboten werden könnte. Daher ist es zunächst wichtig, dass Eltern, Lehrer und aber auch der Freundeskreis auf Veränderungen achten: Sacken Leistungen plötzlich ab? Ist jemand aus unerfindlichen Gründen plötzlich verschlossen? Verzichtet auf Essen? All das können Anzeichen für eine Notsituation sein. Dann ist es ganz wichtig zu signalisieren: ‚Ich bin für dich da und höre zu’. Bei Amanda Todd war es ja sogar so, dass sie regelrechte Hilferufe bei Youtube eingestellt hat, aber niemand hat darauf reagiert.

Und was kann man dann konkret tun, wenn sich ein Jugendlicher anvertraut und erzählt, ich werde gemobbt?
Katzer: Erst einmal sollte man versuchen, mit dem Jugendlichen herauszufinden, was er möchte. Fragen: ‚Wie willst du mit der Situation umgehen?‘ Ganz wichtig ist auch, die Schule zu informieren. Aber nicht anklagend, und Täter vorführend – das kann im Zweifelsfall die Situation für das Opfer sogar noch verschlimmern. Wenn möglich ist es ratsam, die Eltern der Täterseite mit ins Boot zu holen. Denn meist wird klar, dass die Opfer die Täter kennen. Dann sollte man nach den Gründen für das Mobbing suchen. Aber vor allem müssen die Taten sanktioniert werden, damit den Jugendlichen klar wird, dass sie Grenzen überschritten haben.

Welche rechtlichen Möglichkeiten gibt es, gegen Cybermobbing vorzugehen?
Katzer: Viele Formen von Mobbing sind faktisch Vergehen nach dem Strafgesetzbuch. Man kann dazu auch Strafanzeige stellen. Das wissen viele Täter nicht. Die wenigsten kennen die rechtliche Lage und deshalb ist es auch so wichtig, ihnen das klar zu machen. Es gibt auch privatrechtliche Möglichkeiten, also wenn jemand psychisch so betroffen ist, dass er nicht mehr in die Schule gehen kann, dass er krank wird, Psychotherapien in Anspruch nehmen muss, dann kann man die Täter natürlich auch auf Schadenersatz verklagen.

Brauchen wir ein Cybermobbing-Gesetz?
Katzer: Darüber sollte man zumindest diskutieren. In einigen US-Bundesstaaten gibt es das schon. Durch so ein Gesetz würde mehr Aufmerksamkeit geschaffen und Tätern würde es zeigen: Cybermobbing ist kein Kavaliersdelikt.