Niederländer geben Flüssen mehr Raum als Schutz vor Deichbrüchen. Experten legen gezielt Überflutungsflächen für das Wasser an

Lelystad/Nijmegen. Gut 60 Prozent der niederländischen Landesfläche liegen unterhalb des Meeresspiegels oder der Deichlinien der Flüsse. Mit Dämmen und Sperrwerken schützen sich unsere Nachbarn vor katastrophalen Überflutungen. Sie haben, so betonen sie, den besten Hochwasserschutz der Welt. Doch wenn, etwa angesichts des steigenden Risikos durch den Klimawandel, ein Deich nachgeben würde, wäre Holland in Not. Damit das nicht passiert, gibt das Land seinen Flüssen mit einem nationalen, 2,3 Milliarden Euro schweren Programm mehr Überflutungsräume.

Mitte Juli herrscht bei bestem Sommerwetter Ruhe in der Hochwasser-Alarmzentrale des Rijswaterstaat (RWS), der niederländischen Behörde für Infrastruktur, Umwelt und Wassermanagement. Der klimatisierte Großraum, in dem sich bei Wasserkrisen Hydrologen und Meteorologen zum Expertenstab versammeln, ist weitgehend verwaist. Die meisten Computerarbeitsplätze sind leer, an einem beobachtet ein Mitarbeiter die aktuellen Wasserstände vom Rhein, an einigen anderen werden Prognosemodelle weiterentwickelt. „Wir haben hier in Lelystad 20 Angestellte, die die Wasserstandsvorhersagen machen, 20 weitere arbeiten in unseren Außenstellen“, sagt Jaap van Steenwijk, Krisenkoordinator für den Wasserbereich im RWS. „Im Ernstfall ziehen wir hier bis zu 150 Experten zusammen, die im Schichtdienst rund um die Uhr die Vorhersagen und Warnmeldungen aktualisieren.“

Am Ijsselmeer entstehen Hochwasser-Prognosen auch für die Elbe

Zusammen mit Kollegen in Schweden und der Slowakei erstellen die Niederländer Hochwasserprognosen für ganz Mitteleuropa. Und so herrschte im mehrstöckigen Bürokomplex in Lelystad am Ijsselmeer, dessen Parkplatz rechnerisch vier Meter unter dem Meeresspiegel liegt, auch während des Elbe-Hochwassers im Juni Alarmzustand. Nach dem Deichbruch bei Fischbeck (Sachsen-Anhalt) standen eine Handvoll Experten bereits in Rufbereitschaft: Wäre das Manöver, Schuten zu versenken und mit ihnen die klaffende Lücke zu schließen, nicht geglückt, dann wären die Niederländer an die Elbe gereist, um mit ihrem Wissen weiterzuhelfen. Dieser Einsatz war nicht nötig. Doch machten sich Hochwasserexperten jenseits des Rheins dennoch auf den Weg. Sie wollten aus den deutschen Deichbrüchen lernen, da sie in den Niederlanden seit vielen Jahrzehnten damit keine Erfahrung mehr haben – die letzte Hochwasserkatastrophe datiert aus dem Jahr 1953. Damals starben bei einer schweren Sturmflut mehr als 1800 Menschen in den Provinzen Südholland und Zeeland.

Heute fürchten die niederländischen Experten eher Flusshochwasser als Sturmfluten. „An der Küste sind unsere Deiche inzwischen auf eine Flut ausgelegt, wie sie statistisch nur alle 10.000 Jahre auftritt“, sagt van Steenwijk. An der deutschen Nordseeküste und der Tideelbe ist der Wasserstand einer Flut das Mindestmaß, die rechnerisch alle 200 Jahre eintritt; hinzu kommt ein Zuschlag für den Klimawandel von einem halben Meter. Da der Küstenschutz in Deutschland den Bundesländern obliegt, gibt es allerdings uneinheitliche Bemessungsgrenzen in den einzelnen Ländern.

Bei den Flüssen wird in Deutschland ein Schutzniveau gegen Wasserstände angestrebt, mit denen alle 400 Jahre zu rechnen ist. In den Niederlanden sind mindestens 1200 Jahre Standard. Die Maas und die drei Rheinarme Waal, Lek und Ijssel durchqueren den gesamten Süden und die Mitte des Landes, das hydrologisch ein Flussdelta bildet. Das 2010 gestartete Deltaprogramm soll langfristig dafür sorgen, dass die Rheinarme bei Hochwasser das Land nicht in den Würgegriff nehmen. Dazu steht jährlich eine Milliarde Euro zur Verfügung.

Im Rahmen des Programms mussten 150 Menschen umziehen

Wichtigstes Instrument ist derzeit das Programm „Ruimte voor de Rivier“ (Raum für die Flüsse). Es umfasst 38 Einzelprojekte, läuft von 2007 bis 2015 und ist mit 2,3 Milliarden Euro ausgestattet. „Den Flüssen mehr Raum zu geben ist ein Paradigmenwechsel“, betont Projektmitarbeiter Hans Brouwer vom RWS. „Seit Jahrhunderten stehen die Niederlande für Landgewinnung.“ Sein Kollege Cor Beekmans sieht vor allem einen Grund, weshalb das neue Denken weitgehend auf Akzeptanz stößt: „Jeder Interessierte wird bei der Planung einbezogen.“ Insgesamt seien im Rahmen des Flussprogramms 150 Menschen umgesiedelt worden; nur fünf Anwohner hätten sich gerichtlich dagegen gewehrt.

Eines der Schlüsselprojekte läuft in Nijmegen (deutsch: Nimwegen). Hier wird an einer Engstelle der Waal, die zwei Drittel des Rheinwassers zur Nordsee transportiert, ein Bypass gelegt, um bei extremem Hochwasser den Abfluss zu erhöhen. Dazu wird der Hauptdeich um 350 Meter zurückverlegt. Auf der entstehenden Insel sollen neben Natur- und Freizeitflächen Wohnhäuser auf Plateaus errichtet werden. Beekmans: „Die Bebauung wird ein Trittstein werden zwischen der Stadt mit ihrer 2000-jährigen Geschichte am Südlichen Waal-Ufer und dem neuen Stadtteil Lent im Norden. Unser Projekt leistet damit nicht nur einen Beitrag zum Hochwasserschutz, sondern auch zur Stadtentwicklung.“

In Nijmegen wird ein Areal von 250 Hektar umgebaut, und dazu werden fünf Millionen Kubikmeter Erde bewegt. Allein dieses Projekt soll die Spitzen von Extremhochwassern um gut 30 Zentimeter kappen. Maßstab für den Hochwasserschutz ist die Durchflussmenge des Rheins an der deutsch-niederländischen Grenze. Der bestehende Rekordwert von 12.000 Kubikmetern pro Sekunde wurde in den Jahren 1993 und 1995 erreicht. Damals wurden gefährdete Gebiete evakuiert, in denen eine Viertel Million Menschen lebt. Inzwischen können Waal, Lek und Ijssel 15.000 Kubikmeter (m3) Wasser schadlos bewältigen. Zum Projektende sollen es 16.000 m3, zum Ende des Jahrhunderts sogar 18.000 m3 sein.

Auch entlang der Maas wird gebaut. So glaubte Nol Hooijmaaijers, der seit 37 Jahren einen Milchviehhof in einem Polder (eingedeichtes Gebiet) an dem Fluss bewirtschaftet, an einen schlechten Scherz, als die Regierung ihm erklärte, die 550 Hektar Agrarflächen von insgesamt 17 Höfen im Polder seien für den Hochwasserschutz eingeplant. „Auf der ersten Zeichnung, die man uns zeigte, war dort, wo unsere Wiesen und Felder sind, alles blau eingezeichnet. Das war ein Schock für uns“, erzählt er. Doch es stellte sich heraus, dass der sechs Meter hohe Deich nur so weit abgetragen werden soll (etwa um drei Meter), dass der Polder statistisch nur alle 25 Jahre durch ein extremes Hochwasser für ein paar Tage überspült wird, was dann den Spitzenwasserstand um 27 Zentimeter reduziert.

Louis van der Kallen vom örtlichen Wasserverband, der beste Kontakte zu den Landwirten hat, übernahm die Projektumsetzung, diskutierte mit Behördenvertretern und engagierten Bauern darüber, wie sich der Hochwasserschutz mit den Interessen der Landwirte vereinbaren lässt. Eines war klar: Die Betriebsgröße der Höfe lag bereits in der Ausgangssituation am unteren Limit, und es geht Agrarland verloren durch die Rückverlegung der Deichlinie. Fazit: Der Platz reicht zukünftig nicht mehr für alle. Als sechs Bauernfamilien signalisierten, dass sie wegziehen wollen, war der Weg frei für den Umbau des Polders.

Hochwasserschutz genießt in den Niederlanden hohe Akzeptanz

Inzwischen schütten Laster landeinwärts einen neuen Deich auf, an manchen Stellen sind bereits Ausbuchtungen entstanden, auf denen wie auf nordfriesischen Warften neue Bauernhöfe thronen. Nol Hooijmaaijers ist mit seiner Familie im Februar eingezogen. Er hat, als einer von nunmehr noch acht verbliebenen Betrieben, für seinen inzwischen abgerissenen Hof vom Staat 1,4 Millionen Euro bekommen und zusätzlich 850.000 Euro investiert. Vor dem Umzug hatte er 75 Milchkühe, heute stehen im modernen Laufstall mit automatischer Melkanlage 90 Milchkühe. „Aus der anfänglichen Bedrohung für unsere Höfe ist eine Chance geworden, die wir ergriffen haben“, sagt Hooijmaaijers und zeigt auf seine Wiesen, die sich 6,30 Meter unterhalb von Haus und Stall im Polder ausdehnen.

„Die niederländischen Schutzstandards sind noch ambitionierter als die deutschen, aber auch an den deutschen Küsten sowie über weite Strecken auch entlang der Flüsse haben wir ein hohes Sicherheitsniveau“, sagt Prof. Peter Fröhle, Leiter des Instituts für Wasserbau an der Technischen Universität Hamburg-Harburg. Etwas neidvoll blickt der Wasserbauingenieur dennoch auf das Nachbarland: „In den Niederlanden gibt es eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz beim Hochwasserschutz. Es wäre wünschenswert, dass auch die deutsche Gesellschaft ihn nicht nur nach Ereignissen wie den Elbefluten 2002 und 2013 als Daueraufgabe anerkennt und stärker unterstützt.“

Die Reise zu den Hochwasserprojekten wurde vom Niederländischen Wirtschaftsministerium gefördert.