Schäden durch den Werkstoff treten oft verzögert auf. 20 Jahre nach Verbot kämpfen Betroffene immer noch um Anerkennung als Berufskrankheit

Hamburg. „Ich habe 1960 als Elektriker auf einer Werft gearbeitet“, erzählt Harald Niemann. „Da bin ich mit Asbest in Kontakt gekommen.“ Während er und seine Kollegen an Bord arbeiteten, wurden neben ihnen die Asbestplatten zersägt. „Dabei wurden riesige Mengen Asbeststaub freigesetzt – aber die damit verbundene Gefahr war uns damals nicht bewusst.“

Niemann ist Vorsitzender der Asbestose-Selbsthilfegruppe Hamburg und Schleswig-Holstein; anlässlich des 20-jährigen Asbestverbots trafen sich die deutschen Selbsthilfegruppen am Montag in Hamburg. Die Lunge des Elektrikers wurde erst ab 1981 alle drei Jahre untersucht. Doch es dauerte 48 Jahre, bis der Asbest seine gefährliche Wirkung zeigte: 2009 wurde bei Harald Niemann eine Asbestose festgestellt.

So wie dem Norderstedter geht es vielen Menschen, die mit dem Werkstoff in Berührung gekommen sind: Die gesundheitlichen Schäden zeigen sich erst Jahrzehnte später. Dazu zählen der Lungenkrebs, der Krebs des Rippenfells (Mesotheliom), Kehlkopfkrebs, die Asbestose, bei der die feinen Fasern dazu führen, dass sich in der Lunge vermehrt Bindegewebe bildet, und Verhärtungen des Rippenfells durch Bindegewebe. „Nach neuesten Erkenntnissen besteht auch ein erhöhtes Risiko für Eierstockkrebs. Das ist noch nicht als Berufskrankheit anerkannt, aber wissenschaftlich schon belegt“, sagt Prof. Xaver Baur, Arbeitsmediziner an der Berliner Charité. Bei all diesen asbestbedingten Erkrankungen gebe es einen Zusammenhang zwischen der Dosis an Asbestfasern, der jemand ausgesetzt war, und dem späteren Erkrankungsrisiko. Allerdings reichen zum Beispiel beim Rippenfellkrebs auch schon geringe Belastungen aus, um die Erkrankung auszulösen.

Betroffen sind viele Berufsgruppen. Dazu zählen Beschäftigte im Schiffbau, Bauarbeiter, Dachdecker, Heizungsbauer, aber auch Automechaniker, die dem Werkstoff durch die Verarbeitung von Bremsbelägen ausgesetzt waren. „Es gab bereits 1976 die ersten Warnungen“, sagt Gerd Albracht, ehemaliger Leiter des Arbeitsschutzes Hessen und heute bei der Internationalen Arbeitsorganisation. Trotzdem wurde Asbest weiterverarbeitet. „Deutschland hatte 1982 mit 180.000 Tonnen den größten Asbestverbrauch in Europa“, sagt Albracht. Es habe lange gedauert, bis endlich 1993 die generelle Verwendung von Asbest verboten wurde.

Doch die Zahl der Opfer ist immer noch hoch. „Wir haben jetzt mit etwa 9000 Erkrankungen pro Jahr den Höhepunkt erreicht“, sagte Baur. Nach neuen Zahlen aus England rechne man dort im Zeitraum von 2000 bis 2030 mit 60.000 Asbesttoten, ergänzt Albracht. In Deutschland liegt die Zahl der Asbesttoten nach offiziellen Zahlen bei etwa 1500 pro Jahr, nach Schätzungen der Experten aber etwa doppelt so hoch.

Das große Problem sei, dass nur ein Viertel der asbestbedingten Erkrankungen als Berufskrankheit anerkannt wird, sagt Baur: „Beim Mesotheliom sind es etwa 80 Prozent, aber beim Lungenkrebs und bei der Asbestose nur 20 Prozent.“ Damit Lungenkrebs als Berufskrankheit anerkannt wird, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: „Es muss eine Asbestose vorliegen, oder der Betroffene muss eine Belastung von 25 Faserjahren nachweisen“, sagt Baur. Ein Faserjahr bedeutet, dass jemand ein Jahr lang einer Belastung von einer Millionen Fasern Asbest pro Kubikmeter ausgesetzt gewesen ist.

Dass so wenig Erkrankungen als Berufskrankheiten anerkannt werden, hat mehrere Gründe. So müssen Betroffene beweisen, dass sie über Jahre der Asbestbelastung ausgesetzt waren, was teilweise gar nicht mehr möglich ist, weil durch die lange Latenzzeit zwischen Belastung und Ausbruch der Erkrankung viele Firmen von damals gar nicht mehr existieren. Außerdem gebe es zum Teil sehr restriktive gesetzliche Bedingungen, zum Teil aber auch Praktiken der Gutachter, die wissenschaftlichen Analysen nicht standhielten, sagt Baur. So wird als Beweis immer noch die Zahl der Asbestfasern im Lungengewebe herangezogen, obwohl die Fasern von Weißasbest, der 94 Prozent des verarbeiteten Asbests ausmachte, schon nach wenigen Jahren nicht mehr im Lungengewebe nachweisbar sind.

Damit die Opfer zu ihrem Recht kommen und ihnen jahrelange Prozesse vor den Sozialgerichten erspart bleiben, haben die Asbestose-Selbsthilfegruppen einen umfangreichen Forderungskatalog aufgestellt. So setzen sie sich für eine Umkehr der Beweislast ein und fordern den Verzicht auf die Zählung der Asbestkörperchen. Um die Asbestproblematik wieder mehr in das Bewusstsein von Arbeitnehmern und potenziell Betroffenen zu rücken, hat die Europäische Baugewerkschaft eine Kampagne gestartet. Corinna Mahlstedt von der AOK Bremen stellte ein neues Projekt vor, in dem eine Karte mit Asbestvorkommen im Bremer Hafen Betroffenen bei der Anerkennung der Berufskrankheit helfen soll.