Die Fässer geben ihre Radioaktivität ins Meer ab. 114.726 Tonnen Atommüll schlummern größtenteils vor dem europäischen Kontinentalsockel, meist in Tiefen von mehr als 4000 Metern.

Hamburg/Straßburg. Die Sünden liegen Jahrzehnte zurück, doch sie strahlen weit in die Zukunft. Und das im wörtlichen Sinn: Acht europäische Staaten hatten zwischen 1949 und 1982 radioaktive Abfälle einfach dem Meer überlassen, insgesamt versenkten sie 222.732 mit Beton oder Asphalt verstärkte Metallfässer an 14 Stellen vor Europas Küste, in einem „Hurd Deep“ genannten Gebiet im Ärmelkanal und in Höhe der Kanarischen Inseln. Viele dieser Tonnen sind längst verrostet und geben allmählich ihre strahlende Fracht frei. Der Fernsehsender Arte machte sich auf die Suche nach der Altlast und widmet dem „Endlager Meeresgrund“ heute einen Themenabend.

114.726 Tonnen Atommüll schlummern größtenteils vor dem europäischen Kontinentalsockel, meist in Tiefen von mehr als 4000 Metern. Nach offiziellen Angaben enthalten sie schwach- bis mittelradioaktiven Abfall der Atomindustrie, aus Forschung und Medizin. Kritiker wie der britische Atomphysiker John Large gehen jedoch davon aus, dass zum Teil auch hochradioaktiver Müll beigemischt war. Nach einer Aufstellung der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA summiert sich die in Fässern verpackte Radioaktivität auf 42.320 Terrabecquerel (TBq) – zum Vergleich: Die Gesamtaktivität im maroden Atommülllager Asse II betrug Anfang 2010 rund 2900 TBq.

Deutschland ließ im Jahr 1967 radioaktiven Abfall versenken

Allein 35.000 TBq stammen aus Großbritannien. Weitere 6500 TBq steuerten die Schweiz und Belgien bei. Deutschland hat nur im Jahr 1967 Atommüll mit einer Gesamtaktivität von 0,2 TBq versenken lassen. Allerdings ist die Gesamtaktivität nur ein Anhaltspunkt für das Ausmaß des Problems. Denn die Zusammensetzung des Mülls aus den verschiedenen Radionukleiden (radioaktiven Atomsorten) ist nicht vollständig bekannt. Deshalb lässt sich anhand von Halbwertszeiten kaum kalkulieren, wie hoch die Gesamtaktivität heute ist. „Zudem können sich Isotope gebildet haben, die noch stärker strahlen als die Ausgangssubstanzen“, sagt Susanne Neubronner, Atomexpertin bei Greenpeace in Hamburg.

1981 waren die Versenkungsaktivitäten von Atommüllfässern ins Gerede gekommen. Greenpeace dokumentierte damals den bis dahin weitgehend unbekannten „Entsorgungsweg“ der europäischen Atomindustrie. Mit Schlauchbooten manövrierten sich die Aktivisten unter die Abrollrampen der Versenkungsschiffe. Diese stellten das Dumpen aber nicht ein, sodass mehrmals ein mehrere 100 Kilo schweres Fass ein Schlauchboot traf. Die Umweltschützer gerieten in Lebensgefahr und mussten die Aktionen einstellen. Aber sie hatten die Abfallentsorgung auf Kosten der Meere öffentlich gemacht.

Harald Zindler, 68, saß damals in einem der Greenpeace-Schlauchboote. Vor einigen Monaten fuhr er mit dem Arte-Filmteam zu dem besonders brisanten Versenkungsgebiet: Bis 1963 hatte Großbritannien Atomfässer auch im Ärmelkanal verklappt. Hier fielen die Behälter nur 90 bis 140 Meter tief und liegen nur rund 20 Kilometer vor der Kanalinsel Alderney. Schon bei der ersten Suche mit einem Unterwasserroboter entdeckte das Team eine Tonne, äußerlich unversehrt. Beim zweiten Anlauf wurde es wieder fündig: Ein völlig verrostetes Fass geriet ins Visier der Kamera.

Der von Rost zerfressene Behälter versinnbildlicht das damalige Entsorgungskonzept: Dilution is the solution (Verdünnung ist die Lösung). „Die Fässer waren nicht konzipiert, um einen dauerhaften Einschluss der Radionukleide am Meeresboden zu gewährleisten. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass sie zumindest teilweise nicht mehr intakt sind und Radionukleide freigesetzt wurden“, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Bundestagsabgeordneten der Grünen im August 2012.

Doch was genau geschieht am Meeresboden? Nur vereinzelt gab es in der Vergangenheit Forschungsfahrten in die Versenkungsgebiete. So schickte die damalige Bundesforschungsanstalt für Fischerei ihr Schiff „Walter Herwig III“ in den Jahren 1996, 1998 und 2000 in die Iberische Tiefsee vor Spanien. Die Forscher wollten untersuchen, ob sich in den dortigen Meerestiefen von 4700 Metern radioaktive Spuren im Tiefsee-Ökosystem finden lassen. Gesucht wurde nach strahlendem Plutonium, Cäsium und Strontium.

„Die ermittelte Gesamt-Plutonium-Aktivität war nicht signifikant von der des Vergleichsgebietes oder des übrigen Atlantiks verschieden“, heißt es in der Regierungsantwort im August 2012. Auch für Cäsium-137 und Strontium-90 seien keine erhöhten Aktivitäten gemessen worden. Zudem hätten andere Studien ergeben, dass das Risiko, dass die Radioaktivität über Meerestiere in „höher gelegene Wassertiefen der kommerziellen Fischerei“ transportiert wird, vernachlässigbar sei. Der französische Molekularbiologe Pierre Barbey (Universität Caen) sieht das anders: Über die Nahrungskette könne sich die Radioaktivität anreichern, sagte er dem Sender Arte. Wenn Fische am Meeresboden fräßen, könnten sie die Radioaktivität in höhere Wasserschichten transportieren.

Die Wiederaufarbeitung belastet die Meere immer noch mit Radioaktivität

„Über die Nahrungskette kommt die Strahlung nach oben“, sagt auch Greenpeace-Expertin Neubronner. Zudem könnten Meeresströmungen die radioaktiven Altlasten weiträumig transportieren. Sie fordert, die ehemaligen Versenkungsgebiete zu kartieren und eine Bestandsaufnahme durchzuführen. Dort, wo noch intakte Fässer liegen, sollten diese geborgen werden.

Und Neubronner weist darauf hin, dass die Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague am Nordwestzipfel Frankreichs und Sellafield im Nordwesten Englands noch heute im großen Maße Radioaktivität ins Meer abgeben, wobei Sellafield den Hauptbeitrag leistet. Beide Anlagen nahmen auch ausgediente Brennstäbe aus deutschen Kernkraftwerken entgegen – als Entsorgungsnachweis, der den Betrieb der Kraftwerke erst ermöglichte.

Messungen im Rahmen des Meeresschutzabkommens für den Nordostatlantik OSPAR zeigten, das Radionukleide aus La Hague und Sellafield in die Nordsee und darüber hinaus bis nach Nordnorwegen und in die Barentssee driften. Auch Untersuchungen des Thünen-Instituts für Fischerei (ehemals Bundesforschungsanstalt für Fischerei) zeigten den Einfluss der Wiederaufarbeitungsanlagen in der Nordsee. Nach einem 2011 veröffentlichten Bericht sind Ostseefische noch immer durch den Reaktor-GAU in Tschernobyl belastet, Sprotten und Heringe der Nordsee dagegen durch die Wiederaufarbeitungsanlagen.

„Seit Ende der 1990er-Jahre überwog in dem Sellafield-Eintrag in die Nordsee das aus dem Sediment der Irischen See remobilisierte ,alte‘ Sellafield-Cäsium-137 gegenüber den deutlich reduzierten direkten jährlichen Einleitungen“, heißt es in dem Bericht. Auch in der Irischen See schlummert also eine atomare Altlast.