Arzneientsorgung in Toiletten schädigt Wassertiere. Kläranlagen sind auf die Beseitigung der Wirkstoffe nicht eingerichtet. Hormone sind besonders problematisch.

Hamburg/Dessau. Barsche, die durch Psychopharmaka zu Draufgängern werden, Elritzen (ebenfalls Fische), die sich durch das synthetische Östrogen EE2 kaum noch vermehren, Muscheln, die das Antidepressivum Prozac verfrüht laichen lässt und damit die Brut gefährdet: Es mehren sich Anzeichen, dass Rückstände von Medikamenten, die über die Kläranlagen in Gewässer gelangen, den dort lebenden Tieren alles andere als guttun. Die Deutsche Umwelthilfe fordert jetzt, die bis 2009 übliche freiwillige Rücknahme von ausgedienten Arzneimitteln in Apotheken bundesweit wieder einzuführen. Damit ließe sich zumindest das Problem bekämpfen, dass Arzneien über die Toilette beseitigt werden.

Nach Schätzungen des Umweltbundesamts (UBA) entledigen sich die Verbraucher jährlich mehreren Hundert Tonnen mithilfe der Klospülung. Das ist der schlechteste von allen Entsorgungswegen (s. Text rechts unten), denn die Pharmazeutika landen in den Kläranlagen und werden dort nur unzureichend aus dem Abwasser entfernt. Ein Teil von ihnen belastet die Gewässer. Hinzu kommen Abbauprodukte. Sie können schlimmstenfalls schädlicher sein als das Ausgangsprodukt. Dies zeigte sich schon vor Jahrzehnten beim Pestizid DDT: Nicht der Insektenvertilger machte die größten Umweltprobleme, sondern sein Abbauprodukt DDE.

156 Arzneimittelwirkstoffe seien in Deutschland bereits in der Umwelt nachgewiesen worden, gut 130 davon in Oberflächengewässern, berichtete das UBA. Der weit überwiegende Teil stammt aus menschlichen Ausscheidungen. "Das Medikament, das vom Körper komplett zerlegt wird, gibt es noch nicht", sagt Dr. Gerd Maack, der beim UBA für die Umweltbewertung von Arzneimitteln zuständig ist. Oft seien nur zehn Prozent der Dosis im Körper wirksam, der große Rest werde vor allem über die Nieren, ein kleinerer Teil über den Darm ausgeschieden.

Zu den problematischen Substanzen gehörten Hormone, so Maack. Sie geraten zwar nur in Spuren in die Gewässer, doch schädigen sie schon in geringsten Mengen Fische. Dagegen würden Schmerzmittel massenweise eingesetzt und seien deshalb trotz recht guter Abbauraten in Kläranlagen noch in schädlichen Mengen in der Umwelt zu finden, so Maack: "Allein vom Wirkstoff Diclofenac werden in Deutschland jährlich 90 Tonnen eingesetzt."

Das Schmerzmittel verursacht bei Fischen Schäden an Nieren, Leber und Kiemen. Bekannt wurde die Substanz, als sie vor 20 Jahren in Indien mehrere Populationen unterschiedlicher Geierarten zusammenbrechen ließ. Die Aasfresser hatten sich an toten Rindern vergiftet, die zuvor mit Diclofenac behandelt worden waren. Auch in Deutschland ist die Tiermedizin eine wichtige Ursache der Umweltbelastung durch Pharmazeutika; die Wirkstoffe gelangen über die Gülle oder den Mist auf die Felder und in die Gewässer.

Wie stark der Einfluss von Kläranlagen ist, untersuchte Wibke Scheurer, Doktorandin im Institut für Abwasserwirtschaft und Gewässerschutz der Technischen Universität Hamburg-Harburg. Sie nahm am Abfluss von vier niedersächsischen Kläranlagen Proben, ebenso in betroffenen Gewässern ober- und unterhalb der Einleitungen. Drei von vier Substanzen, nach denen sie suchte, tauchten regelmäßig in den Kläranlagenabläufen auf: Diclofenac, Carbamazepin (Antiepileptikum/Stimmungsstabilisierer) und Metoprolol (Betablocker/Blutdrucksenker).

"Unsere durchschnittlichen kommunalen Kläranlagen sind nicht auf die Entfernung von Spurenstoffen wie Pharmazeutika aus dem Abwasser ausgerichtet", sagt Wibke Scheurer. Die angewendeten technischen Verfahren sollen vor allem grobe Verunreinigungen und Nährstoffe entfernen sowie Keime abtöten. "Der Verbleib der Spurenstoffe und speziell der Pharmazeutika hängt von deren chemischer Struktur ab. Einige zerfallen bereits auf dem Weg zur Kläranlage, andere wie etwa das Carbamazepin sind so stabil, dass die eingetragenen Mengen die Kläranlage unverändert passieren."

Zwar hat Scheurer die drei Wirkstoffe nur in geringsten Mengen in der Größenordnung von Millionstel Gramm (Mikrogramm) pro Liter in den Abläufen und - noch stärker verdünnt - in den Gewässern nachgewiesen. Dennoch gilt für alle drei Substanzen, dass schon bei einer chronischen Konzentration von einem Mikrogramm pro Liter das Risiko besteht, dass die Kiemen und Nieren von Fischen geschädigt werden.

Obwohl die Probleme offensichtlich sind, hat die Politik noch nicht reagiert. Die europäische Wasserrahmenrichtlinie nennt europaweit gültige Umweltnormen für sogenannte prioritäre Stoffe, anhand derer die Gewässerqualität zu beurteilen ist - kein einziger Arzneimittelwirkstoff ist dort gelistet. Zwar schlägt die EU-Kommission vor, zwei Hormone (Ethinylestradiol und Estradiol) sowie das Diclofenac aufzunehmen. Doch bislang wehrten sich die meisten Mitgliedsstaaten gemeinsam mit der Pharmaindustrie dagegen, so Maack. Er ist wenig optimistisch, dass die Substanzen demnächst den Reigen der bislang 33 prioritären Stoffe ergänzen werden: "Vielleicht gelingt dies beim Diclofenac. Wenn nicht, wird das Schmerzmittel bei der nächsten Revision der deutschen Verordnung zum Schutz der Oberflächengewässer wieder auf der Tagesordnung stehen. Denn die Umweltnorm wird in elf von 16 Bundesländern überschritten."

Schnelle Abhilfe verspricht ein bewussterer Umgang mit Medikamenten. Maack wünscht sich deutlich weniger rezeptfreie Mittel, um bei leichten Erkrankungen dem schnellen Griff zur Pille vorzubeugen. Ärzte sollten möglichst kleine Packungen verschreiben und Patienten nicht von jedem Arztbesuch erwarten, dass sie mit einem Medikament versorgt werden. Auch ein Ampelsystem wie in Schweden sei denkbar, so Maack. Dort signalisiert grün/gelb/rot die Umweltverträglichkeit des Medikaments.

Das altbewährte Rücknahmesystem der Apotheken, das 2009 mit der Novellierung der Verpackungsverordnung abgeschafft wurde, könnte einen Beitrag zur Problembekämpfung leisten. Doch wer nimmt den Apotheken das Sammelsurium aus Pillen, Salben, Zäpfchen und Tropfen ab? In Berlin gibt es die "Medi-Tonne", in Hannover den "Medi-Sack". In Hamburg konnten sich Apothekerkammer, Stadtreinigung und Politik jedoch bislang auf keine Lösung einigen.