Die Eisfläche ist zum Ende des Sommers 2012 so weit geschmolzen wie nie zuvor. Experten warnen in Hamburg vor den Folgen.

Hamburg. Vor wenigen Wochen kündigte sich in der Arktis ein neuer Minus-Rekord an: Die Eisfläche, die zum Ende des Sommers übrig geblieben ist, ist so klein wie nie zuvor seit Beginn der Satellitenmessung im Jahr 1973. Gestern präsentierten deutsche Eisforscher an der Universität Hamburg einen Wert, der selbst pessimistische Erwartungen unterbot: Derzeit misst die nordpolare Meereisfläche nur noch 3,37 Millionen Quadratkilometer. Damit ist das sommerliche Minimum nicht einmal mehr halb so groß wie vor drei Jahrzehnten.

Das auf dem Meer schwimmende Eis wächst und schmilzt im jahreszeitlichen Rhythmus: Jeweils im Frühjahr bringen die höher stehende Sonne und die steigenden Temperaturen das Eis zum Schmelzen. Ende September hat die Eisfläche ihr Minimum erreicht - die nun schwächelnde Sonneneinstrahlung hat zur Folge, dass der Eispanzer allmählich wieder wächst. Im März ist die maximale Ausdehnung von 15 bis 16 Millionen Quadratkilometern erreicht, und der Zyklus beginnt von vorn.

Der Eisrhythmus gleicht dem Ein- und Ausatmen. Doch während das Luftholen, also das Anwachsen des Eises, über die Jahrzehnte etwa gleich stark blieb (das jährliche Maximum zeigt keinen abnehmenden Trend) war das diesjährige Ausatmen so stark wie seit rund 1500 Jahren nicht mehr, betonen die Wissenschaftler.

Die sommerliche Schmelze setzt der arktischen Eislandschaft stark zu. "Der jetzige Minusrekord liegt 23 Prozent unter dem größten bisherigen Minus im Jahr 2007. Und auch dieses lag 23 Prozent niedriger als der vorangegangene Rekord. Das sind drastische Rückgänge", sagte Prof. Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Sein Kollege Dr. Georg Heygster, Eisforscher an der Universität Bremen, betonte, der Schwund habe sich im jüngsten Jahrzehnt beschleunigt: "Derzeit nimmt das Minimum in einem Jahrzehnt um 2,73 Millionen Quadratkilometer ab. Setzt sich dieser Trend linear fort, dann würde die Arktis in zehn bis 15 Jahren im Spätsommer eisfrei sein."

Dr. Dirk Notz vom Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie formuliert es etwas vorsichtiger: "Bis Mitte des Jahrhunderts könnte das Meereis im Sommer weitgehend verschwunden sein." Das hat nicht nur Folgen für die Eisbären, die im Sommer nicht mehr über Eisfelder und -schollen laufen können, und für Robben, denen die kalten Pontons zum Ausruhen fehlen. Vielmehr leide die gesamte polare Nahrungskette, sagte Prof. Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI): "Die Struktur des Eises ähnelt der eines Schwammes. Es hat kleine Hohlräume, in denen Algen wachsen. Sie leben auch unter dem Eis und bilden die Nahrungsgrundlage für winzige Krebschen, die ihrerseits größeren Tieren wie Fischen als Nahrung dienen."

Wenn im arktischen Sommer größere Ozeanflächen eisfrei sind, dann nehmen sie wesentlich mehr Sonnenwärme auf als zuvor die zugefrorenen Flächen: Weißes Eis reflektiert 90 Prozent der Sonnenstrahlung, dunkles Meerwasser nicht einmal zehn Prozent - so verstärkt der Abtaueffekt die Erwärmung zusätzlich. Entscheidend für die Zukunft des Meereises sei vor allem die Eisdicke, betont Dr. Lars Kaleschke, der an der Universität Hamburg Satellitendaten zur Eisbedeckung auswertet. Dabei zeigte sich: "Es geht an die Substanz des mehrjährigen Eises in der zentralen Arktis." Zwar kann die Dicke des Eises erst seit wenigen Jahren von Satelliten erfasst werden. Doch Abschätzungen haben ergeben, dass sie sich zum Ende der Schmelzsaison in den vergangenen Jahrzehnten mehr als halbiert hat, von etwa 2,5 Metern auf heute gut einen Meter.

Der Temperaturanstieg in der Arktis erwärme weltumspannend die Ozeane, so PIK-Forscher Levermann. Er sieht weitere Alarmzeichen beim grönländischen Festlandeis: "In normalen Jahren können wir bei etwa der Hälfte der Eisfläche Abschmelzvorgänge beobachten. In diesem Jahr waren 95 Prozent der Fläche betroffen."

Auch Europa werde durch das dahinschmelzende Eis beeinflusst, sagte AWI-Forscher Gerdes: "Durch eine wärmere Arktis verringern sich die Luftdruckgegensätze zwischen der Polarregion und niedrigeren Breiten. Dadurch schwächen sich die Westwinde ab. Das begünstigt stabile Wetterlagen, in denen polare Kaltluft nach Europa fließt - extreme Winter könnten häufiger werden." Ähnliches gelte für andere atmosphärische Störungen. Auch sie bewegen sich langsamer, sodass sich trockene Wetterlagen leichter zu Dürren oder Warmluftzuströme zu Hitzewellen ausweiten könnten. Gerdes: "Wir müssen mit mehr extremen Wetterlagen rechnen."

Zumindest die Schifffahrt könnte von der Erwärmung profitieren. Derzeit werde ein "Polar Code" (internationale Vorgaben für den Schiffsverkehr in polaren Gewässern) erarbeitet, sagte Dr. Jürgen Holfert, Leiter des deutschen Eisdienstes am Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie in Rostock. Doch der Schifffahrtsexperte warnt: "Eine geringere Eisbedeckung, dünneres Eis und moderne Schiffe machen die Arktis besser erreichbar. Dies bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Schifffahrt sicherer wird. Denn die Satelliten können Eisberge und -bruchstücke nicht erfassen, die durch vermeintlich eisfreie Gebiete treiben. Solche Bruchstücke können Schiffe bei Kollisionen untergehen lassen, zumal wenn diese aufgrund der beobachteten Eisfreiheit mit höherer Geschwindigkeit fahren."

Eine Animation zur Eisentwicklung: www.abendblatt.de/wissen-eisdicke