Der Biochemiker Matthias Mann analysiert die Eiweiße in unseren Zellen und deren Rolle bei Krankheiten. Dafür erhält er den Körber-Preis.

Hamburg. Den Bauplan für unseren Körper und die Anleitung für seine Funktionen liefert unser Erbgut; die Bausteine sind die Eiweiße. Diese auch Proteine genannten Stoffe leisten aber noch viel mehr: Als Signalgeber steuern sie in den Zellen Tausende von Prozessen. Geht dabei etwas schief, können Krankheiten wie Krebs entstehen. Wie das geschieht, ist aber noch nicht genau bekannt. Das könnte sich bald ändern - auch und vor allem dank Professor Matthias Mann. Ohne die Arbeiten des 52-Jährigen, der das Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München leitet, "wäre die moderne Biologie im Grunde nicht möglich", heißt es bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

So große Worte würde Mann nicht wählen, er ist zurückhaltend, wenn es um seine Leistungen geht. Renommee ist für den im niedersächsischen Thuine geborenen Wissenschaftler keine wichtige Kategorie. Diesen Eindruck vermitteln zumindest Anekdoten wie diese: Als er vor mehr als 20 Jahren nach seinem Abschluss in Mathematik und Physik das Angebot bekam, an der Yale University zu promovieren, die zu den besten Hochschulen der Welt zählt, habe er erst einmal nachschauen müssen, "wo das eigentlich liegt, dieses Yale".

Seitdem ist Mann allerdings so zielstrebig gewesen, dass ihn die DFG für seine Erfolge Anfang des Jahres mit dem Leibniz-Preis ehrte, der mit 2,5 Millionen Euro höchstdotierten und wichtigsten Auszeichnung für Forscher in Deutschland. Nicht genug der Ehre: Heute erhält er im Hamburger Rathaus auch den mit 750 000 Euro dotierten Körber-Preis 2012 für die Europäische Wissenschaft. Sein Verdienst: Er hat die Massenspektrometrie, ein seit fast 100 Jahren in diversen Disziplinen genutztes Verfahren, mithilfe der Elektrospray-Ionisierung in die Molekularbiologie übertragen - und damit auch der Medizin neue Perspektiven eröffnet.

+++ Die Auszeichnung +++

Viele Fachbegriffe, aber es lohnt sich, weiterzulesen. Der Reihe nach. Mit der Massenspektrometrie lässt sich die Masse von Molekülen messen. Die zu untersuchenden Substanzen werden dafür verdampft und in der Gasphase mit Elektronen beschossen, wodurch Ionen entstehen. Diese werden durch ein elektrisches Feld beschleunigt und zu einem Analysator geführt, der ihre Massen erfassen und sie dadurch unterscheiden kann. Auf diese Weise erkennen Chemiker die Zusammensetzung von Verbindungen und Gemischen, weisen Dopingjäger verbotene Substanzen im Urin nach, fahnden Umweltanalytiker nach Giften wie Dioxin. Sogar in der Archäologie kommt das Verfahren zum Einsatz, bei der Radiokohlenstoffdatierung (C14-Methode) zur Altersbestimmung von organischem Material.

In der Biologie schien das Verfahren jedoch lange nicht anwendbar, weil Eiweiße aus relativ großen Molekülen bestehen, die sich nicht verdampfen lassen. Ein Stück Fleisch oder Tumorzellen kann man so lange erhitzen wie man will - sie werden nicht gasförmig. Manns Doktorvater in Yale, der US-Chemiker John Fenn, hatte eine ebenso einfache wie geniale Idee: Wenn man das Eiweiß verflüssigte, es durch eine hohle Nadel pumpte und an deren Ende eine elektrische Spannung anlegte, dann würde die Lösung elektrostatisch verdampfen; es würden sich winzige Tropfen bilden, die elektrisch geladen wären; die Proteine wären gasförmig. Das funktionierte tatsächlich. Für die Erfindung dieses "Elektrosprays" erhielt Fenn 2002 den Nobelpreis.

Dem amerikanischen Forscher ging es um Grundlagenforschung; dass sich die Methode einmal in der Molekularbiologie einsetzen ließe, um den Ursachen von Krankheiten auf die Spur zu kommen, daran hatte er nicht gedacht. Sein Doktorand schon. So kam es, dass Matthias Mann fortan maßgeblich die Entwicklung von Verfahren vorantrieb, mit denen sich die erzeugten Biomoleküle im Massenspektrometer untersuchen lassen. Vereinfacht dargestellt, werden die Proteine in dem Gerät dabei in Bruchstücke zerlegt. Deren Gewicht verrät ihre Identität.

Lange konnten Forscher nur die Wirkung weniger Proteine untersuchen. Durch Manns Arbeiten wird es bald wohl möglich sein, auf einen Schlag das sogenannte Proteom, also alle Proteine einer menschlichen Zelle zu studieren. 2008 gelang es ihm mit seinem Team erstmals, das Proteom der Hefezelle, das aus mehr als 4000 Proteinen besteht, zu entschlüsseln. Vor ungleich größeren Herausforderungen stehen sie beim Menschen: Mindestens 22 000 bis 25 000 Proteine gibt es im Körper (so viele wie es Gene gibt, da jedes Gen ein Protein "herstellt"); möglicherweise könnten jedoch bis zu 50-mal so viele Proteine existieren. Und jede der mehr als 200 Zelltypen des Körpers hat ein eigenes Proteinmuster, das sich ändern kann, etwa bei Krankheiten. Deshalb arbeiten Forscher aus aller Welt seit 2004 im "Human Proteome Project" daran, das komplette menschliche Proteom zu entschlüsseln.

+++ Körber-Preis für bayerischen "Eiweiß-Detektiv" +++

Veränderte oder falsch gebildete Proteine können etwa zu unkontrolliertem Zellwachstum führen, wie bei Krebs. Um zu verstehen, was dabei im Detail geschieht, analysieren Matthias Mann und sein Team die Protein-Verteilung in Zellen vor und nach der Erkrankung. Haben sie ein Eiweiß im Verdacht, untersuchen sie anschließend in Zellkulturen seine biologische Funktion, das heißt, sie schneiden es heraus oder stimulieren sein Wachstum. "So können wir sehen, ob etwas geschieht, das in Richtung Krebs geht." Zur Anwendung kommen könnten seine Methoden etwa bei der Diagnose von Brust- und Prostatakrebs und Lymphomen, um viel genauer als bisher zu bestimmen, um welchen Typ einer Krebsart es sich handelt, sagt Mann. Von dem Befund hänge etwa ab, ob nach einer Operation noch eine Chemo- oder eine Strahlentherapie nötig sei. "Statt nur ein Protein zu messen, das für den Krebs eine Rolle spielt, können wir Tausende Proteine erfassen", sagt Mann. Nun gelte es, die Technik so weiterzuentwickeln, dass sie sich in Kliniken kostengünstig einsetzen lasse.

Parallel arbeitet er daran, das Proteom von Muskelzellen zu entschlüsseln, um zu verstehen, welche Rolle Eiweiße für die Reaktion der Muskeln auf Insulin spielen. Dieses Hormon wird in der Bauchspeicheldrüse gebildet, wenn wir etwas gegessen haben. Es "sagt" etwa den Muskeln, dass sie den steigenden Blutzucker "verbrennen" sollen. Funktioniert dies nur unzureichend, kann es zu Diabetes kommen. Werden die Muskeln trainiert, etwa durch Sport, sprechen sie besser auf Insulin an - warum, ist unklar. Auch das möchte Matthias Mann verstehen.

Seit seiner Zeit in Yale ist er viel herumgekommen: Seiner Frau zuliebe, einer Dänin, arbeitete er zunächst an der Universität von Süddänemark; anschließend leitete er eine Gruppe am Europäischen Molekularbiologie-Laboratorium in Heidelberg, bis er 2005 sein Amt als Direktor des Max-Planck-Instituts für Biochemie in Martinsried antrat. Seine Frau lehrt heute Amerikanistik an der Universität von Kopenhagen. Gelöst haben die beiden dieses Dilemma durch einen Kompromiss: Sie hat eine halbe Stelle, deshalb kann sie im Frühjahr öfter in Martinsried sein, während er im Herbst in Kopenhagen ist, wo er an der Universität forscht - natürlich zur Proteomik. Es bleibt schließlich noch viel zu tun.