Eine neue Beziehung nach dem Tod des Partners ist kein Skandal mehr. Bei Männern ist das Bedürfnis nach Zweisamkeit besonders groß.

Früher war der Begriff "verwitwet" gleichzusetzen mit Einsamkeit. Nach dem Tod des Ehemannes oder der Ehefrau im hohen Alter einen neuen Partner kennenzulernen war noch vor wenigen Jahren ein Tabuthema. Heute jedoch kann Liebe und Leben jenseits der 70 ganz anders aussehen. Viele entscheiden sich, nach dem Tod des geliebten Menschen ohne Partner durchs Leben zu gehen - aber keineswegs alleine, sondern begleitet von vielen Freunden, voller Lebenslust und Tatendrang. Dass es aber auch durchaus zu einer neuen Beziehung kommen kann, zeigte vor Kurzem eine der großen Hamburger Persönlichkeiten. Altkanzler Helmut Schmidt, 93, bekannte sich zu seiner neuen Lebensgefährtin Ruth Loah, 78. Die Beziehung zu seiner ehemaligen Mitarbeiterin sei eine selbstverständliche Entwicklung gewesen, sagte er in der TV-Sendung "Menschen bei Maischberger". Seine Antwort auf die Frage, ob er glücklich sei: "Glück ist relativ."

Dem kann Carl Groth, 82, nur zustimmen. Vor knapp fünf Jahren verlor der Hamburger Architekt seine Ehefrau Elfriede "Elfi" Groth. Krebs lautete die Diagnose. Für ihren Mann war es selbstverständlich, dass er seine Frau bis zu ihrem Tod zu Hause pflegte. Das Paar hatte sechs Monate Zeit, um sich voneinander zu verabschieden. "Dieser Tod, diese Verabschiedung vom Leben war für mich, für uns, eine sehr intensive und bedeutungsvolle Zeit", sagt Carl Groth. "Eigentlich muss ich sagen, dass wir noch nie so dicht beieinander waren wie in diesen Monaten."

+++ "Körperkontakt ist lebenslang sehr wichtig" +++

Er war für sie da, sie nahm es an. Weihnachten 2007 verlor sie das Bewusstsein, vier Tage später war sie tot. Für Carl Groth, der Zeit seines Lebens ein nüchterner Mensch gewesen ist, begann die Trauerphase. "Früher habe ich den Begriff ,Trauerjahr' nie verstanden", sagt er. Am eigenen Leib habe er erfahren, was dies bedeute. Denn Groth, der sich als Autor und Dichter einen Namen gemacht hat, Lesungen hält, Hörspiele verfasst hat und Preisträger überregionaler Literaturwettbewerbe ist, schrieb sich monatelang die Trauer von der Seele. Er schrieb Monologe im Namen seiner Frau. Er verfasste Gedichte an sie, er schrieb Geschichten über das gemeinsame Leben, er begann zu malen: "Bis nach einem Jahr der Drang, für, an und über sie zu schreiben plötzlich abebbte."

Wenige Monate nach dem Tod seiner "Elfi" war er bereits aus dem Haus in Harburg, ihrem letzten gemeinsamen Domizil, umgezogen in die Seniorenresidenz Augustinum am Elbufer. "Dass ich dorthin ziehe, musste ich meiner Frau vor ihrem Tod noch versprechen. Sie wollte wissen, wo ich bleibe."

Sein neues Leben begann - und wurde am 14. Januar 2010 vervollständigt, als er Ingrid Rudolf, 61, kennenlernte. Sie erwog, im Augustinum einzuziehen, und die Wohnung von Carl Groth war die Beispielwohnung, die sich Interessenten angucken konnten. Zur Witwe Ingrid Rudolf baute Carl Groth schnell eine besondere Verbindung auf: "Wenn man in einem Seniorenstift eine um etliche Jahre jüngere Witwe 'beim Probewohnen' kennen- und schätzen lernt, ist das schließlich wie ein Sechser im Lotto." Sie aßen gemeinsam zu Mittag und tranken gemeinsam eine Flasche Rotwein. Sprachen über ihre verstorbenen Partner, über Geschichten und Gedichte, über Reisen und Träume, die sie noch erfüllen wollen. Noch am gleichen Tag duzten sie sich, tauschten Telefonnummern aus und freuten sich auf das nächste Treffen. "Wie wir von Beginn an miteinander umgingen, war selbstverständlich und vertraulich", sagt Carl Groth. "Sie ist meine beste Freundin, ich schätze sie sehr."

Er genieße, mit ihr zusammen zu sein, gemeinsam die Welt zu entdecken - die jüngste Reise führte die beiden auf einem Frachter nach Ostschweden - und schließlich auch jemanden zu haben, der ab und an helfen könne, wenn es mal nötig sein wird: "Natürlich kann ich dann einen meiner Freunde hier fragen, ob er mir ein Pflaster auf den Rücken kleben kann, aber lieber ist es mir, wenn Ingrid das eines Tages machen würde." Zudem ist die 61 Jahre alte Hamburgerin mittlerweile die Lektorin sämtlicher Geschichten und Hörspiele von Carl Groth. "Alles, was ich schreibe, geht zuerst durch ihre Hände. Sie ist eben meine Muse."

Die anderen Bewohner des Augustinums freuen sich mit den beiden, mittlerweile versteht sich auch seine Tochter gut mit der neuen Gefährtin an Papas Seite. Zunächst sei die Tochter entsetzt gewesen und habe ständig an die eigene Mutter gedacht, sagt Carl Groth. Mit der Zeit aber wuchs auch die Akzeptanz für die neue Partnerin. Sie mit seiner Frau zu vergleichen, das kommt Carl Groth gar nicht in den Sinn. "Im Alter ist eine Beziehung vollkommen anders", sagt er. "Es geht um Freundschaft, tatkräftiges und geistiges Zusammenwirken und Verlässlichkeit in gegenseitiger Aufmerksamkeit." So etwas entdeckt zu haben und täglich zu erleben, sei für "öllerhaftige Lüüd" ein großes Erlebnis. "In dieser Hinsicht kann ich nachempfinden, warum Helmut Schmidt und seine Mitstreiterin aus jüngeren Jahren einander nahe bleiben und ergänzen."

Auch die Wahrung eigener Interessen sei bei einer Beziehung im Alter wichtig. Eine gemeinsame Wohnung würden die beiden nicht beziehen, "das ist so viel interessanter, als sich ständig auf der Pelle zu hocken." Drei- bis viermal täglich telefonieren Carl Groth und Ingrid Rudolf miteinander, zwei- bis dreimal pro Woche treffen sie sich. Manchmal bereitet er in seiner kleinen Küche ein Gericht aus seinem eigenen Kochbuch zu, ein anderes Mal spielen sie Karten oder sie planen den nächsten Urlaub. Für Carl Groth fühlt sich dieser neue Lebensabschnitt gut an: "Wenn ich in meine Zukunft sehe, sehe ich Frau Rudolf als Freundin an meiner Seite. Und das ist ein schönes Gefühl."

Witwe Lore Bünger, 89, hingegen möchte allein bleiben: "Ich will jetzt meine Freiheit haben." In diesem Monat wäre sie 60 Jahre mit ihrem Ehemann Hans-Jürgen verheiratet gewesen. Zehn Jahre lang hat die Rentnerin aus Sülldorf ihren an Alzheimer erkrankten Mann gepflegt, bis er im Januar dieses Jahres im Alter von 85 Jahren starb. Die letzten drei Jahre seines Lebens verbrachte er im Heim, "auf Geheiß meiner Kinder, sonst wäre ich bald dort gelandet". Da konnte sich der frühere Leiter einer Finanzabteilung einer Hamburger Reederei schon nicht mehr selbst anziehen, wurde schnell ungnädig und lief von zu Hause weg. In den letzten 18 Monaten erkannte er seine Familie kaum noch. Der Abschied von ihrem Mann sei für alle eine Erlösung gewesen. Das solle nicht falsch verstanden werden, sie sei mit ihrem Ehemann sehr glücklich gewesen: "Es tat weh, ihn so zu sehen", sagt Lore Bünger. Da er seit längerer Zeit nicht mehr zu Hause gelebt hatte, begann der Übergang vom gemeinsamen Leben zum Alleinsein bereits vor seinem Umzug ins Pflegeheim. Und schon vor dem Tod ihres Mannes hatte sich Lore Bünger ein großes Netzwerk aufgebaut, ein Netzwerk, das sie jetzt wesentlich stützt - ihr Terminkalender ist voll, "und Struktur und Disziplin braucht man im Alter". Seit 15 Jahren besucht sie für die ZeitZeugenBörse Hamburg ehrenamtlich Schulen, jüngst drehte das NDR-Fernsehen eine Dokumentation über die Zeit der britischen Besatzung 1945 in Hamburg mit ihr. In der Sülldorfer St.-Michaelis-Kirchengemeinde engagiert sich Lore Bünger mit einem Blumenstrauß in der Hand im Besuchsdienst. "Ich gratuliere über 80-Jährigen zum Geburtstag", sagt sie. Die meisten seien jünger als sie, "das ist schon lustig." Zwar gibt es einen "Galan", der sie regelmäßig anruft und fragt, wie es ihr ginge: "Das schmeichelt mir schon, aber Liebe? Nein, das kann ich mir nicht mehr vorstellen."

Mit ihrem Mann verband sie weniger die einzigartige große Liebe als mehr die tiefe Freundschaft zweier unterschiedlicher Menschen die ein Leben lang andauerte: "Er war ruhig, bescheiden und fürsorglich, ich war quirlig und rege, zog ihn mit. Wir ergänzten uns." Es sei ein harmonisches Leben gewesen mit zwei gesunden, wundervollen Kindern: "Mehr kann man nicht erwarten."

Lore Bünger versteht Menschen wie Helmut Schmidt, die sich im Alter auf eine neue Beziehung einlassen. Wäre sie zuerst gegangen, sie hätte sich sogar gefreut, wenn ihr Mann eine neue Partnerin gefunden hätte. "Ältere Männer kommen nicht so gut alleine zurecht", sagt sie. "Sie brauchen mehr Zuspruch als wir Frauen."

Die Zahlen geben ihr recht: Laut Statistik gingen 2010 in Hamburg 51 verwitwete Männer ab 65 Jahren eine neue Ehe ein - traten nur zwölf verwitwete Frauen aus dieser Altersgruppe noch einmal vor den Standesbeamten. "Ältere Männer können schlechter alleine leben als Frauen", sagt auch Markus Ernst, 42. Der Psychologe und Paartherapeut betreut telefonisch Kunden der Online-Partnervermittlung Parship in Fragen rund um das Thema Beziehungen. "Wenn die Ehefrau, mit der man ein Leben gemeinsam gelebt hat, stirbt, fühlen sie sich im Alltag häufig hilflos und allein." Besonders für ältere Leute sei die Online-Partnersuche ideal, um eine neue Liebe zu finden: "Ältere Menschen wissen ganz genau, was sie wollen. Sie sind bei der Partnersuche frei von den Zwängen einer Karriere und einer Familienplanung, lassen sich gern Zeit und suchen gezielt nach einem neuen Partner." Eine aktuelle repräsentative Studie des Unternehmens belegt das: So nutzten im vergangenen Jahr rund 57 Prozent der Singles über 50 Jahren bevorzugt das Internet zur Partnersuche. Die gesamte Lebensperspektive älterer Menschen habe sich geändert, sagt Markus Ernst. Eine Ansicht, die auch die Altersforscherin und Psychologin Prof. Ursula Staudinger von der Jacobs University Bremen teilt (siehe Interview). Früher sei ein neuer Partner einem Verrat an dem Verstorbenen gleichgekommen: "Heute sehen ihn die Hinterbliebenen nicht als Konkurrenz, sondern als Möglichkeit, dem Leben eine neue Richtung zu geben."