Die Bremer Altersforscherin Ursula Staudinger über Beziehungen und Sexualität im Alter.

Hamburger Abendblatt:

Noch vor wenigen Jahren war es undenkbar, dass ein verwitweter Mann und eine verwitwete Frau im späten Alter zusammen neues Glück erfahren. Woher kommt der Wandel?

Prof. Dr. Ursula Staudinger:

Die Altersforschung beobachtet diesen Wandel schon seit geraumer Zeit. Zum einen basiert er auf der demografischen Entwicklung. Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Alter, und das in einem gesünderen Zustand. Mehr ältere Menschen nehmen weiter am gesellschaftliche Leben teil, suchen neue Wohnformen und haben so die Möglichkeit neue Menschen kennen- und lieben zu lernen. Die Demografie zeigt, dass eine Person, wenn sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts erst mal das Alter 60 erreicht hatte, noch etwa 14 Jahre zu leben hatte und davon mehr als die Hälfte in Krankheit. Heute sind es durchschnittlich noch 25 Jahre, davon weniger als ein Drittel in Krankheit. Zum anderen sind die Altersbilder dabei, sich zu verändern.

Was bedeutet "Alter" in unserer Gesellschaft?

Staudinger:

Der Begriff "alt" war früher einseitig mit negativen Eigenschaften verbunden wie Verluste im sozialen oder auch mentalen Bereich, eingeschränkter Lebensradius, Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Heute verliert das kalendarische Alter an Bedeutung. Das zeigt sich in Studien zur zeitlichen Definition von alt: früher galt man mit 60 Jahren als alt, heute erst mit 75. Immer mehr Menschen über 60 stehen noch im Arbeitsleben, alleine dieser Faktor führt dazu, dass die Alten immer mehr noch mitten im Leben stehen - auch im Liebes- und Beziehungsleben.

Welche Parameter definieren Liebe im Alter?

Staudinger:

Auch im Alter gestalten sich Liebesbeziehungen sehr individuell. Deshalb ist auch im Alter jeder seiner Liebe Schmied. Der amerikanische Psychologe Robert Sternberg hat eine Entwicklungstheorie über die Liebe aufgestellt die etwas Ordnung in die Vielfalt bringt. Ist die reproduktive Phase vorbei, verschieben sich die Schwerpunkte. Freundschaft und Zärtlichkeit schieben sich relativ gesehen in den Vordergrund, wobei es naiv wäre glauben, dass Sexualität keine Rolle mehr spielt.

Wie wichtig ist der Sex im Alter?

Staudinger:

Medizinische Untersuchungen haben bestätigt, dass Körperkontakt und die Stimulation der Haut lebenslang sehr wichtig sind. Die körperliche Berührung gewinnt neben dem sexuellen Akt an sich an Bedeutung. Die Vorsicht und der Respekt im Umgang miteinander wird, wenn man sich erst im Alter kennenlernt, größer sein als im jungen Erwachsenenalter. Es geht aber auch ganz anders: Einige Menschen finden erst im Alter die vollkommene Erfüllung ihrer körperlichen Liebe, sie erfahren sozusagen eine sexuelle Neuentdeckung.

Werden wir älter, je länger wir lieben?

Staudinger:

Ja, die Altersforschung hat gezeigt, dass Menschen, die zufriedener und voller Pläne sind, eine höhere Lebenserwartung haben. Diese beiden Eigenschaften treffen auf Liebende wohl eher zu als auf Entliebte. Die Intimität, die Vertrautheit mit einem anderen Menschen ist ein menschliches Grundbedürfnis.