US-Forscherin aus Philadelphia macht in Hamburg verborgene Schrift auf alten Manuskripten mit einer Spezialkamera wieder sichtbar.

Hamburg. Das Verborgene, mit bloßem Auge nicht Erkennbare, danach sucht Claire MacDonald. Sie liebt die Vorfreude, diese Spannung, die sich einstellt, wenn sie ein Blatt Pergament unter die Spezialkamera legt, den Raum abdunkelt und die Strahler links und rechts neben ihrem Tisch einschaltet, die Licht in verschiedenen Wellenlängen auf das Manuskript werfen. Und wenn dann auf dem Monitor ein vergrößertes Bild des Objekts erscheint und darauf immer deutlicher Schriftzeichen hervortreten, die zuvor noch unsichtbar waren, schließlich ganze Sätze, die ein Mensch vor vielen Hundert Jahren geschrieben hat, taucht MacDonald in die Vergangenheit. "Und zugleich frage ich mich dann, wie wohl die Menschen in 500 Jahren unsere Texte lesen werden", erzählt die 25 Jahre alte Forscherin.

Manuskripte, handgeschriebene Briefe und Bücher, waren mehr als zwei Jahrtausende lang das einzige Medium der Schriftlichkeit. Die ältesten Dokumente dieser Art, Handschriften wie die Qumran-Rollen vom Toten Meer, entstanden in vorchristlicher Zeit. Indem sie Literatur überlieferten, prägten sie Kulturen auf dem ganzen Globus - bis der Druck erfunden wurde, der für eine ungleich größere Verbreitung des Wissens sorgte.

+++ Zeichenleserin +++

Um die Vergangenheit zu ergründen, haben Generationen von Gelehrten Manuskripte studiert - sich auf die erkennbare Schrift konzentrierend und davon ausgehend, dass die meisten Texte von nur einem Autor stammen. Seit einigen Jahren nehmen Forscher zunehmend auch das Material der Handschriften ins Visier. Dabei kommt mit Hightech-Methoden ans Licht, dass die Überlieferung oft gar nicht so eindeutig ist wie angenommen, dass im Laufe der Zeit Sätze gekürzt, ergänzt oder gelöscht wurden.

Eines der weltweit modernsten Labors für diese Forschung existiert seit Kurzem in Hamburg. Untergebracht in einem unscheinbaren weißen 70er-Jahre Bau in Rotherbaum forschen hier 58 Wissenschaftler der Universität aus 16 Disziplinen über Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa. Dafür erhalten sie bis Mitte 2015 acht Millionen Euro Fördergeld von der Deutschen Forschungsgemeinschaft; weitere zwei Millionen Euro gibt die Uni dazu. Das Projekt, das insgesamt auf eine Laufzeit von zwölf Jahren angelegt ist, solle einen umfassenden Blick auf Manuskripte werfen, es gehe längst nicht nur um die Wiedergewinnung verlorener Schrift, erläutert der Sprecher Michael Friedrich, Professor für Sinologie. Allerdings helfe insbesondere die technische Analyse dabei, Manuskripte auf neue Weise zu beurteilen. "Indem wir anhand des Materials die Entwicklung von Handschriften nachvollziehen, bekommt die Forschung eine nie da gewesene Genauigkeit."

Hier kommen Claire MacDonald und ihr archäometrisches Labor ins Spiel. Die Amerikanerin hat in Philadelphia (US-Bundesstaat Pennsylvania) Imaging studiert, bildgebende Verfahren. Das ist ein weltweit noch seltener Studiengang an der Schnittstelle zwischen Physik und Disziplinen wie Medizin und Astronomie; in der Manuskriptforschung ist das Verfahren noch relativ neu. Weil sie darauf spezialisiert ist, erhielt MacDonald von der Universität Hamburg die Einladung, für drei Jahre in der Hansestadt zu arbeiten. "Das fand ich spannend", erzählt sie.

Viele alte Handschriften bestehen aus Pergament, also aus Tierhäuten. Diese waren ein kostbares Gut; vom 500er-Pack Druckerpapier für 3,99 Euro aus dem Supermarkt konnten die Gelehrten in der Antike und im Mittelalter nur träumen. Und so geschah es wohl oft, dass damals etwa die Mönche eines italienischen Klosters ältere Manuskripte recyceln mussten, wenn sie neues Pergament brauchten. Dazu lösten sie den Einband eines Buches auf, schabten die Seiten ab und schrieben mit frischer Tinte darüber. So sei es gekommen, dass die ursprünglichen Seiten sich oft auf mehrere neue Bücher verteilten - und damit womöglich über ganz Europa, erläutert Michael Friedrich. Aber wie findet man heraus, ob ein Manuskript von mehreren Schreibern betextet wurde?

Claire MacDonald nutzt dazu Licht in 13 verschiedenen Wellenlängen: acht Frequenzen im Spektrum des sichtbaren Lichts, vier im Infrarotbereich sowie eine Frequenz im ultravioletten Bereich. Zum Verständnis muss man sich klarmachen, dass Licht aus Photonen besteht, Teilchen, die sich in unterschiedlich langen Wellen ausbreiten. Die Farbe des Lichts hängt von der Wellenlänge ab. Atome, die Bausteine der Materie, können Licht verschlucken oder reflektieren: Blätter etwa verschlucken rotes und blaues Licht und reflektieren grünes. Wir sehen Gegenstände also nicht, weil diese selbst eine Farbe haben, sondern weil sie eine Farbe des Lichts reflektieren.

Bei der schwarzen Schreibflüssigkeit, die im Mittelalter für Manuskripte verwendet wurde, handelte es sich häufig um Eisengallus-Tinte. Diese bestand aus Eisensalzen (Eisenvitriol) und Pflanzengallen. Rote Tinte, die ebenfalls verwendet wurde, enthielt oft Blei. Von den Bestandteilen der Tinte hängt ab, bei welchen Wellenlängen sie sichtbar wird. Die nun erkennbare Schrift fotografiert Claire MacDonald mit einer sogenannten Multispektralkamera, die pro Foto 39 Millionen Bildpunkte (Megapixel) in Schwarzweiß aufnehmen kann. Zum Vergleich: Professionelle digitale Spiegelreflexkameras erreichen etwa 18 Megapixel. Mit speziellen Filtern und Computerprogrammen kann die Forscherin die Konturen der Schriftzeichen weiter herausarbeiten. In den nächsten Wochen wird sie ein noch besseres Gerät erhalten, das mit 50 Megapixel auflöst.

Claire MacDonald analysiert Stück für Stück alle Handschriften, die sie von ihren Kollegen - Wissenschaftlern aus asiatischen, afrikanischen und europäischen Philologien, aus der Kunstgeschichte und der historischen Musikwissenschaft - erhält. Mit den neuen Daten machen diese sich dann ans Werk. Das Themenspektrum umfasst zum Beispiel Büchersammlungen aus dem alten China, Chroniken über Swahili-Manuskripte aus Afrika und Handschriften aus den Kreisen des Kardinals Basilius Bessarion, jenes berühmten griechischen Gelehrten, der im 15. Jahrhundert dazu beitrug, die Schriften Platons zu erschließen.

Dieses Breite, die auch die Neuzeit mit einschließt, mag auf den ersten Blick unfokussiert wirken. Doch es gebe eine Klammer, ein großes Ziel, das sie innerhalb der nächsten zwölf Jahre erreichen wollten, sagt der Sprecher des Projekts, Michael Friedrich: "Wir möchten dazu beitragen, dass das Medium Manuskript künftig in einem globalen Zusammenhang gesehen wird." Bisher habe sich die Forschung auf Handschriften auf Westeuropa konzentriert. Die wissenschaftliche Erschließung der schätzungsweise zehn Millionen Handschriften aus Afrika und Asien hingegen stecke noch in den Anfängen. Dort hätten Forscher und die Öffentlichkeit gerade erst begonnen, Manuskripte wieder als Teil des kulturellen Erbes zu begreifen; von europäischen Forschern wiederum seien diese Quellen bisher weitestgehend ausgeklammert worden.

Die Expertise der Hamburger hat sich mittlerweile herumgesprochen. Sie bekämen Anfragen von Forschern aus aller Welt, sagt Friedrich. Weil es oft sehr aufwendig und teuer ist, Manuskripte zu verschicken, werden Claire MacDonald und ihre Kollegen demnächst zu Orten reisen, an denen man sie schon sehnlichst erwartet. Geplant sind etwa Besuche in Berlin, Florenz und - darauf freue sie sich besonders, sagt Claire MacDonald - in Kathmandu, der Hauptstadt von Nepal.