Spezialkameras überwachten das Olympia-Training von Lolo Jones. Seit Anfang des Jahres trainiert sie mit Markierungskugeln.

London. Sie sah die Katastrophe nicht kommen. Am Vortag noch hatte Lolo Jones ihr Halbfinale über 100 Meter Hürden mit 12,43 Sekunden in persönlicher Bestzeit gewonnen und die Konkurrenz deklassiert. Nun stand die US-Amerikanerin wieder im Nationalstadion von Peking, in dunkelblauem Dress, mit einer Sportbrille im Gesicht, als Favoritin für die Goldmedaille. Der Startschuss: Explosiv schnellte Jones aus dem Block und ging in Führung, immer größer wurde ihr Vorsprung - bis sie etwa 20 Meter vor dem Ziel mit ihrem Schwungbein, dem rechten, die vorletzte Hürde streifte und ins Straucheln kam. Aus der Traum vom Olympiasieg. Sie wurde Siebte.

So geschehen am 19. August 2008; Lolo Jones war damals 26. Das Malheur sollte sich wiederholen: Zwar konnte die Athletin 2010 in Doha ihren Titel als Hallenweltmeisterin über 60 Meter Hürden verteidigen, doch bei anderen Rennen scheiterte sie mehrfach an Hindernissen, und sie litt unter Rückenschmerzen. Bis heute kann Jones nicht sicher sein, was schiefging, aber ihr Arzt, der Wirbelsäulenspezialist Dr. Robert Bray aus Los Angeles, nimmt an, dass eine Fehlbildung des Rückenmarks die Ursache war, die eine gestörte Wahrnehmung zur Folge hatte: Jones sprang über die Hürden, ohne genau zu spüren, wo sich ihre Zehnen befanden.

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Ein erhebliches Manko in einer Disziplin, die besondere Präzision erfordert: Mit kaum mehr als fünf Zentimeter Abstand gleitet das Schwungbein bei Spitzensportlerinnen wie Jones über die Hürde; je flacher sie das Hindernis überlaufen, desto weniger Geschwindigkeit verlieren sie. Um zwischen den Hürden eine gleichmäßige Schrittfrequenz zu erreichen, sollte der Flug möglichst kurz sein. Stößt sich die Athletin zu früh ab, muss sie ihre Schritte hinter der Hürde verlängern; bringt sie das Schwungbein zu spät nach oben, muss sie eventuell abstoppen und gerät hinter der Hürde ins Trippeln. In beiden Fällen riskiert sie, die 83,8 Zentimeter hohen Hürden zu touchieren.

Im August 2011 operierte Robert Bray die Läuferin an der Wirbelsäule. "Es war superhart", erzählt Jones von der Zeit nach dem Eingriff. "Ich kam kaum aus dem Bett. Ins Bad zu gehen war das Höchste, was ich einen Monat lang tun konnte." Als erstes Ziel gaben ihr die Ärzte die Vorgabe, 15 Minuten am Stück zu gehen. "Ich dachte: Macht ihr Witze? 15 Minuten? Ich bin eine Olympia-Athletin. Verschont mich!" Tatsächlich war sie weit entfernt von einem erneuten Start bei Olympia. Und selbst wenn sie zu alter Form finden würde - wie könnte sie sich den entscheidenden Vorsprung sichern?

Womöglich mithilfe der Forschung. Die ist eigentlich schon lange fester Bestandteil des Hochleistungssports: Mediziner messen Atemvolumen, Herzfrequenz und Übersäuerung des Blutes; Ökotrophologen wachen über die Ernährung; Ingenieure tüfteln an neuen Materialien, entwickeln federleichte Schuhe und windschlüpfrige Anzüge; Sportwissenschaftler planen das Training. Von solcher Unterstützung profitiert auch Lolo Jones. Doch bei der Amerikanerin ist noch mehr Technik im Spiel als üblich.

Seit Anfang des Jahres trainiert sie mit 39 silbernen Markierungskugeln an Armen, Rumpf und Beinen; sie läuft durch ein Spalier aus 40 Spezialkameras, welche die Bewegungen der Markierungskugeln erfassen. Ein Computerprogramm wandelt die Daten in eine dreidimensionale grafische Darstellung der Läuferin um; sie wird auf dem Monitor zu einem Strichmännchen, dessen Bewegungen in jedem Winkel betrachtet werden können, in Zeitlupe oder in Echtzeit. Es ist eine Technologie, die auch bei Filmen wie "Der Herr der Ringe" zur Anwendung kommt, um Geschöpfe wie Gollum zu animieren. Dabei übertragen Grafiker die Bewegungen eines Schauspielers auf eine virtuelle Figur.

Die Analyse von Jones' Hürdenläufen war aufschlussreich. So zeigte sich etwa, dass die Athletin im Startblock ihre Hüften nicht hoch genug brachte; ihr Schwerpunkt war zu niedrig, sie verschwendete zu viel Energie, um ihren Körper zu beschleunigen. Dennis Shaver, ihr Coach, korrigierte dies, indem er die Fußstützen höherstellte. Jones linkes Bein, so offenbarten die Aufnahmen, "hinkte" bei den ersten acht Schritten minimal hinterher, es erzeugte nicht die gleiche Beschleunigung wie das rechte Bein, wodurch sie womöglich 0,01 Sekunden pro Schritt verlor. Die ersten vier Hürden ging sie zu schnell an, wodurch sie zu früh ermüdete. Jones erfuhr auch, dass sie ihr Schwungbein minimal nach außen drehte, wenn sie über die Hürden sprang - ein Makel, den sie bis April korrigierte.

Das verlorene Rennen von Peking, ihre Rücken-OP und das Hightechtraining haben Jones neue Sponsoren und eine Aufmerksamkeit beschert, die sie nutzte. "Sports Illustrated" und "USA Today" berichteten, sogar das Magazin "TIME" widmete ihr eine Geschichte. Die US-Medien lieben Jones, weil sie den amerikanischen Traum verkörpert. Sie wuchs in Des Moines auf, der Hauptstadt des Bundesstaats Iowa im Mittleren Westen, ihre Familie war arm. James, der Vater, landete etliche Male im Knast, Lori, die Mutter, fand nur selten Arbeit. Als die Familie ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte, lebte sie zeitweise im Keller der Heilsarmee. Der Sport war Lolos Rettung: Er gab ihr Stabilität in der Highschool, verhalf ihr zu einem Studium an der Louisiana State University (Wirtschaft und Spanisch) und zu Starts bei den größten Leichtathletik-Wettbewerben der Welt.

Gestern ist Lolo Jones 30 Jahre alt geworden. Heute will sie in London in den Vorläufen über 100 Meter Hürden starten, morgen im Halbfinale und im Finale siegen (Liveübertragung geplant um 22 Uhr im ZDF). Dieses Mal sollen alle Hürden stehen bleiben.

Ein Video zeigt Jones' Hightech-Training www.abendblatt.de/lolojones