Erst mit 16 Jahren erfuhr die Kirchenmusikerin Elisabeth Müller, wie sie der Pinneberger Zeitung verriet, dass sie ein Zwitter ist.

Pinneberg. Dabei habe sie schon als Kind gespürt, dass etwas anders war. Aber niemand klärte sie auf, obwohl schon bei ihrer Geburt festgestellt worden war, dass sie eine XY-Frau ist. In ihrem Körper entwickelten sich weibliche und männliche Keimdrüsen. Die innen liegenden Hoden, die ein Krebsrisiko darstellten, ließ sie auf Drängen der Ärzte mit 24 Jahren entfernen. Die lebenslange Hormontherapie ist die offensichtlichste Folge der Operation, die psychischen sind gravierender.

"Es gibt zahlreiche Betroffene, die unter teilweise veralteten Behandlungsmethoden, vor allem unter mangelnder Aufklärung sehr leiden. Heute können in vielen Fällen die Hoden so an der Leiste fixiert werden, dass maligne Veränderungen beobachtet werden können. So erübrigt sich die Entfernung der Hoden - und auch die lebenslange Hormontherapie", weiß Professorin Hertha Richter-Appelt, Leiterin der "Hamburger Forschergruppe Intersexualität" am Uniklinikum Eppendorf. Sie veröffentlichte gerade die größte europäische Studie zu diesem "stark tabuisierten" Phänomen. Die Ergebnisse sind alarmierend.

Bei einem von etwa 5000 Kindern weltweit können nicht alle körperlichen Merkmale eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden. Allein in Deutschland leben, vorsichtig geschätzt, mindestens 80 000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Intersexualität. "Intersexualität oder wie in Fachkreisen gesagt wird 'Disorders of Sex Development' ist damit häufiger als das viel mehr beachtete Phänomen der Transsexualität."

Intersexualität entsteht, wenn in der siebten bis zwölften Schwangerschaftswoche die Entwicklung des Embryos gestört wird, weil die Sexualhormone nicht im erforderlichen Umfang ausgeschüttet werden. Die Folgen sind vielfältig. So kann ein Intersexueller mit einem männlichen Chromosomensatz (XY) später Brüste ausbilden, oder ein Mensch mit einem weiblichen Chromosomensatz (XX) entwickelt keine Scheide und gerät in den Stimmbruch. "Intersexualität ist ein Überbegriff für eine Vielzahl von Erscheinungsbildern und Entwicklungen", so Richter-Appelt.

Bis Ende des vergangenen Jahrhunderts war es gang und gäbe, Menschen mit einem uneindeutigen Genitalbefund schnellstmöglich zu operieren, um sie körperlich an ein Geschlecht anzupassen. Es wurden Mini-Penisse verlängert, Hoden verlagert, Scheiden angelegt, Brüste oder Hoden entfernt - und Hormone verschrieben. Es war der US-Psychologe John Money, der in den 1950er-Jahren die Behandlungsrichtlinien für den Umgang mit diesen Kindern erstellte. Er nahm an, dass man Kinder medizinisch und sozial nur konsequent einem Geschlecht zuweisen müsse, dann würden sie sich auch so entwickeln. "Nicht selten wurde den Eltern von Ärzten empfohlen, sich diesen Behandlungsrichtlinien zu beugen", so Richter-Appelt. Es war die Zeit, in der Neugeborene noch als weißes Blatt Papier galten, auf dem sich die Umwelt dann verewigt. Eine fatale Fehleinschätzung.

Wie extrem die operativen Eingriffe und die hormonellen Behandlungen belasten, das zeigt die Hamburger Studie. "Viele erwachsene Betroffene berichten, durch die oft sogar mehrfachen Genitaloperationen und die damit einhergehenden Vor- und Nachuntersuchungen und Behandlungen traumatisiert zu sein." Inzwischen, sagt Hertha Richter-Appelt, sei man sich einig, "dass Patienten mit Intersexualität entsprechend ihrem Alter aufgeklärt werden müssen und operative oder hormonelle Eingriffe möglichst spät erfolgen sollen, wenn die Kinder selber ihr Einverständnis geben können."

Wichtig sei, die Eltern so zu stabilisieren, dass sie das Kind annehmen können, wie es ist, und es ermutigen, seinen Weg zu gehen. Eine Antwort auf die Frage, wie lebt ein Intersexueller? gibt es nicht.