UKE-Forscher untersuchen die Synästhesie, bei der Menschen Sinnesreize miteinander verknüpfen - etwa Zahlen oder Töne mit Farben verbinden.

Hamburg. Das ist ein tiefes Violett, ich bitte, sich danach zu richten! Nicht so rosa!" Diese Sätze stammen nicht etwa von einem Maler, sondern werden dem Komponisten Franz Liszt (1811-1886) zugeschrieben. Der Überlieferung nach fielen die Worte bei einer Orchesterprobe in Weimar. Sie gelten als Nachweis dafür, dass Liszt, wie auch andere Künstler, Synästhetiker war.

Bei Synästhetikern führt die Stimulation eines Sinnes automatisch und unwillkürlich zur Empfindung in einem anderen Sinn. Ein A auf dem Papier lässt die Farbe Rot vor dem Auge aufleuchten. Eine Stimme hört sich braun an. Der Montag ist gelb. Das Hören einer Geige löst ein Gefühl aus, als würde man über ein Fell streichen. Es gibt die unterschiedlichsten Spielarten der Synästhesie, sie sind sehr individuell.

Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) wollen Wissenschaftler nun erkunden, in welchem zeitlichen Ablauf die beteiligten Hirnregionen zusammenarbeiten. "Die Forschung läuft im Rahmen eines europäischen Forschungsprojekts, das sich mit Wahrnehmung und der Verknüpfung von Sinnesreizen befasst", sagt Projektleiterin Sina Trautmann-Lengsfeld vom Institut für Neurophysiologie und Pathophysiologie. "Dabei arbeiten Forscher mit Probanden, die eine etwas andere Wahrnehmung haben, neben Synästhetikern beispielsweise auch Blinde." Wenn man verstehe, wie die Sinne bei diesen Menschen verknüpft seien, dann könne man Rückschlüsse darauf ziehen, wie die Wahrnehmung verschiedener Eindrücke bei Menschen entstehe.

+++ Forscher haben Ursache für Synästhesie aufgedeckt +++

Die Hamburger wollen bei ihren Tests mit der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) zusammenarbeiten, wo sich Wissenschaftler bereits seit 1996 intensiv mit dem Phänomen befassen. Bislang haben sie Kontakt zu mehr als 1000 Menschen mit Synästhesie weltweit. "Viele fragen: Ist das eine Krankheit?", sagt MHH-Oberarzt Markus Zedler. Dies sei jedoch nicht der Fall. Schätzungsweise fünf Prozent der Bevölkerung haben laut Zedler eine Vermischung der Sinne, britischen Untersuchungen zufolge. "Hat man früher gedacht, dass vor allem Frauen synästhetische Empfindungen haben, so zeigen Zahlen aus England, dass Männer und Frauen gleich stark betroffen sind." Aufgrund der Häufung in Familien werde Erblichkeit angenommen.

Am häufigsten sind laut Zedler Synästhesien, bei denen die Menschen beim Hören oder Lesen von Buchstaben und Zahlen Farben sehen. "Entweder wie vor einem inneren Auge oder irgendwo im Raum." Auch die Hamburger Künstlerin Anna Mandel gehört zu den "Synnies". Die Ziffer 2 ist für sie eindeutig gelb. Erscheint die 2 in einer 24, so ist das Gelb anders als in einer 26. Alle fünf Vokale haben eine bestimmte Farbe, überstrahlen die Konsonanten und sind für die Grundtönung des Wortes maßgeblich. Hört sie, dass jemand 22 Jahre alt ist, hat sie Sonnenlicht vor Augen. Andersherum wird aber kein Schuh daraus: Sieht die Bildhauerin ein buntes Gemälde in einer Ausstellung, dann tauchen nicht automatisch Zahlen vor ihrem Auge auf.

Die 51-Jährige ist Mitglied der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft und erkannte ihre besonderen Wahrnehmungen in der Kindheit zusammen mit ihrer Cousine. "Auf einem Familientreffen haben wir uns einen Spaß daraus gemacht und uns darüber gestritten, welche Farbe welcher Buchstabe hat." Derzeit will sie sich mit dem Verein dafür einsetzen, dass Synästhesien auch an Schulen besser bekannt werden. "Ich hatte Mathematik-Leistungskurs, und konnte mit Formeln und Zahlen gut umgehen. Beim Kopfrechnen war ich aber unheimlich langsam, weil ich mit den Farben im Kopf klarkommen musste." Sie erklärt dies so: Wenn "2 + 3" nicht nur "5", sondern auch "Dunkelrot" ergibt, so könne das eine Merkhilfe sein. Wenn "2 + 2" aber ein ähnliches "Rot" habe, dann werde es schon schwieriger. "Wir müssen uns auf das fokussieren, was wir gerade brauchen, also beim Lesen auf die Bedeutung des Textes, und die Farben nach hinten drücken. Das kann man sehr gut lernen." Beim Musikhören seien die Farben hilfreich. "Da stört es mich, wenn ich die Augen geöffnet habe und ich vom Sichtbaren abgelenkt werde", sagt Mandel, die auch singt.

Die Empfindungen bestehen meist das ganze Leben, wenn sie wegfallen, kann dies störend sein. "Wir wissen, dass sich synästhetische Empfindungen in der Schwangerschaft, durch Psychopharmaka oder Gehirnerschütterungen verändern können", sagt Zedler - die genauen Vorgänge seien unbekannt. "Dies löst bei den Menschen oft Angst aus, denn plötzlich ist ihre Welt nicht mehr so bunt oder anders geartet."

Es gibt mehrere Theorien, wie das Farbenhören oder Töneschmecken entsteht. Erstens: Die Nervenzellen unterschiedlicher Hirnregionen werden gleichzeitig aktiviert, durch Verknüpfungen. Dies geschieht, weil die Gebiete nah beieinanderliegen oder nicht genügend voneinander isoliert sind. Zedler: "Das reicht zur Erklärung der komplexen Synästhesien nicht aus. Seh- und Hörrinde liegen vergleichsweise weit auseinander im Gehirn."

Die zweite Theorie des "Hyperbinding" wurde vom Team des inzwischen emeritierten Professor Hinderk Emrich in Hannover entwickelt. Der englische Begriff Binding bezeichnet in etwa das Bewusstsein des Menschen, mit einer Situation umzugehen: "Wie fühlt sich das an? Was weiß ich bereits darüber, was habe ich Gutes oder Schlechtes in solch einer Lage erfahren? Alles fügt sich dann zusammen zu einem Bild", sagt Zedler. Dabei seien die sogenannten limbischen Areale im Gehirn beteiligt (dort werden unter anderem Gefühle verarbeitet) und schlügen "eine Brücke" zu anderen Gebieten des Gehirns. Bei Synästheten ist dieses Binding stärker entwickelt.

Der dritte Ansatz befasst sich mit einer veränderten Hemmung von Reizen im Gehirn. "Das Wichtigste im Gehirn ist, die vielfältigen Reize zu filtern und die Reaktionen in Schranken zu halten, damit sie nicht überschießen", erklärt der Psychiater. "Bei Synästhetikern werden bestimmte Reize je nach Ausprägung weniger gehemmt, sie beziehen noch mehr Sinne ein."

Markus Zedler fasst zusammen: "Bei Menschen mit Synästhesie leistet sich das Gehirn und damit das Bewusstsein den Luxus, mehr Sinnesreize miteinander zu verknüpfen, um sich ein Bild von der Lage zu machen." Dies könne man als eine Spielart der Evolution bezeichnen. "Aus unserer Sicht haben diese Menschen Vorteile, und wir wollen wissen: Wie kann man sich das zunutze machen, und was können wir über die Ausbildung von Bewusstsein lernen?"

Viele Erkenntnisse hat bislang die funktionelle Magnetresonanztomografie geliefert. Während der Untersuchung lösen die Probanden Aufgaben und werden mit Bildern oder Tönen konfrontiert. Wissenschaftler können mit den Aufnahmen Rückschlüsse ziehen, welche Hirnregionen aktiv sind. Mit der strukturellen Magnetresonanztomografie wiederum können sie die Strukturen des Gehirns anschauen. "Wenig weiß man allerdings über die zeitlich-räumliche Zusammenarbeit dieser Regionen bei Synästhetikern", sagt Trautmann-Lengsfeld.

Das Team in Hamburg will nun die Magnetoenzephalografie einsetzen. "Mit dieser Methode können wir im Millisekundenbereich verfolgen, in welchem zeitlichen Ablauf die Hirnregionen interagieren", sagt die Psychologin. Dabei werden die magnetischen Felder gemessen, die die Nervenzellen beim Arbeiten produzieren.

"Es gibt Hinweise, dass Menschen mit Synästhesien besser und schneller reagieren, wenn sie mehrere Sinneseindrücke gleichzeitig verknüpfen", sagt die Neurowissenschaftlerin. Möglicherweise sei es aber auch genau andersherum, das heißt, sie wären unter Umständen langsamer als Probanden einer Vergleichsgruppe. Das gilt es nun herauszufinden.